Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Gottes Namen auf den Lippen tragen, wenn Ihr besessen seid?«, fragte er ungläubig. »Wie könnt Ihr ernsthaft glauben, dass Euer Gebet etwas wert ist, wenn der Teufel in Euch wohnt?«
Sie reckte den Kopf. »Wie könnt Ihr ernsthaft glauben, ich würde Euch folgen, wenn Ihr mir unterstellt, besessen zu sein?«, fragte sie zurück. »Wie könnt Ihr ernsthaft glauben, ich würde Euer Weib werden, wenn Ihr den Teufel in mir wähnt? Hlæfweard? «
Er blieb stehen. Sein Gesicht wurde blass.
»Ihr tragt den Teufel in Euch«, flüsterte er. »Ich – ich hab ihn gesehen. Ich hab gesehen, wie er Euch schüttelte, so als schlieft Ihr mit ihm – habt Ihr mit ihm geschlafen? Hat er es Euch ordentlich besorgt? Hat er?«
» Hlæfweard , Ihr vergesst Euch!«, schrie sie ihn an. »Wenn es einen Teufel gegeben hat, dann habt nur Ihr ihn gesehen.«
»Ich habe ihn gesehen und zwar mit Euch zusammen, hlæfdige! «, schrie er zurück und kam mit raschen Schritten auf sie zu. »Ich werde Euch den Priestern ausliefern – Ihr wart mein, und ich will keine Besessene …«
Bevor Nial sich in den Streit einmischen konnte, hob sie die Hände und senkte den Kopf. Dann sank sie langsam vor den beiden Männern in die Knie. Die Sonne war mit ihr und beschien ihr bloßes Haupt, warm legte sie ihr die Hand auf den Kopf und machte ihr Mut.
»Ein Toter liegt hier«, sagte Christina leise. Wärme stieg in ihre Hände, schützte sie, wie sie es viele Male getan hatte, schützte sie gegen den begehrlichen Kerl – schützte sie …
»Ein Toter liegt hier«, wiederholte sie, »und wir haben kein Recht, uns neben ihm zu streiten. Wir werden ihn beisetzen.« Sie hob den Kopf und schaute dem Mórmaer ins Gesicht. Sein Blick war starr, sie konnte nichts mehr darin lesen.
»Dieser Ort ist heilig«, fügte sie hinzu. Wenn er daran dachte, sein Schwert einzusetzen, war sie machtlos.
Doch vorläufig gab es keinen Widerstand, ein Grab für den Toten auszuheben. Die Männer schwiegen. Stille strich an allen vorbei, glättete Ärger, Eifersucht, Begehren. Für alles gab es eine Zeit – jetzt war die Zeit für den Toten, das begriff sogar der Mórmaer. Und Máelsnechtai schob mit dem Fuß Blätterhaufen zur Seite, um nach einer Vertiefung zu suchen, wo der Verstorbene seine letzte Ruhe finden konnte. Nial nahm den Toten auf die Arme und trug ihn zu der Stelle, wo sein Bruder mit bloßen Händen gefrorene Erde wegscharrte. Dann suchten sie stumm Steine zusammen und türmten sie erst über den einen Toten, bis er in einem Grab lag, das kein Raubvogel und kein hungriges Tier würde auseinanderbrechen können, dann auch über Lazarus, den sie von dem Trümmerbrocken nicht hatten befreien können.
Nial schenkte den beiden den schönsten Schmelz seiner Stimme, als er das Totengebet begann. »Subvenite, Sancti Dei, occurrite, Angeli Domini, suscipientes animam eius, offerentes eam in conspectu Altissimi. Suscipiat te Christus, qui vocavit te, et in sinum Abrahae Angeli deducant te. Suscipientes animam eius, offerentes eam in conspectu Altissimi. Requiem aeternam dona ei, Domine: et lux perpetua luceat ei …«
Sie standen noch eine Weile beisammen. Das gemeinsame Tun hatte Frieden gesät; es schien so, als würde sich der Mórmaer nicht mehr erinnern, worüber er vorhin noch so erregt gewesen war. Oder dass er den Teufel bei ihnen gewähnt hatte. Vielleicht war dies das letzte Werk des alten Mönchs, der friedlich aus der Welt geschieden war. Die Sonne hatte inzwischen den ganzen Himmel erobert und ließ die Schneepracht, die der frühe Morgen überraschend gebracht hatte, wie einen Schatz aus tausend Kristallen glitzern. Nein, sie würde diese saubere Decke nicht schmelzen, sie würde sie noch ein wenig liegen lassen, weil sie das Hässliche zuverlässig verbarg. Die Trümmer, den Staub – die Erinnerungen.
Zumindest Nial war dankbar dafür.
Auch wenn ihm entsetzlich kalt war vom langen Verharren im Schnee, und gegessen hatten sie auch schon lange nichts mehr. Doch ein Blick auf Christina ließ ihn alle Schwernis vergessen – sie leuchtete von innen und schien den Strapazen und Verlusten keinen Tribut hatte zahlen müssen. Gott hatte die ganze Zeit Seine Hand über sie gehalten, wie musste Er sie lieben! Ihre Schönheit wirkte überirdisch. Und Nial begann leises Bedauern zu verspüren …
Im Lager des alten Mönchs fanden sie ein paar Lumpen, die dieser vor den schottischen Barbaren hatte retten können. Christina sortierte die Kleider und entschied
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