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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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sich das Kleid über den Kopf und warf es von sich. Der Moment war gekommen.
    »Ad te, Domine, levavi animam meam, Deus meus, in te confido; non erubescam«, flüsterte sie und hob ihre Arme. Sie warf dem Fahlen ihre Seele entgegen.
    Wie feiner weißer Schnee rieselte sie über die wilde Mähne und setzte sich mit tausend kleinen Blüten auf die Haare. Lautlos fielen sie herab, und sie nahmen dem eisigen Grau die Kälte und die Schärfe … Der Fahle blieb stehen. Immer weißer färbte sich sein mächtiger Kopf, das Mähnenhaar hing schwer zu Boden, als er schrumpfte. Aus seinen Nüstern tropfte jetzt weißes Blut.
    Sie standen voreinander. Zwischen den erhobenen Händen hielt Christina ihren ganzen Willen, und der Fahle senkte den Kopf. Sie griff beherzt hinter seine sichelförmigen Ohren und streifte ihm den Zaum vom Kopf. Mit ohrenbetäubendem Rasseln fielen Gebiss und Ketten zu Boden, gruben sich mit Wucht dort ein tiefes Loch, und erst als alles nebeneinanderlag, hörten auch die Kirchenmauern auf zu beben. Dann war es ganz still. Sie ließ die Arme sinken. Erschöpfung kroch an ihr hoch, doch noch war Er ja da, stand vor ihr – schwankend, unsicher, aber immer noch unberechenbar.
    »Geh«, sagte sie leise. »Geh und komm nicht wieder.«
    Du wirst mich begleiten, sagte der Fahle da.
    »Nein«, flüsterte sie.
    Hinter ihr murmelte der alte Klosterhüter nun Segensformeln, um das befreite Buch den Heiligen anzuvertrauen, und vielleicht rettete das ihrer beider Leben, denn im nächsten Moment wurde der Boden von Jarrow so heftig erschüttert, als hätte von unten jemand einen Rammbock gegen die Menschen geschleudert. Der Erdstoß ging durch Mark und Bein, dröhnte ohrenbetäubend nach, ließ die Mauern sprechen. Seine Wucht riss Christina von den Füßen und warf sie gegen den Altar, während ringsum die ersten Steine herabfielen – erst kleine aus den Zwischenräumen, dann folgten immer größere Trümmer, aus denen jene stolze Abtei einst erbaut worden war. Ihr Aufprall ließ die Erde wieder erzittern, damit sie nur nicht zur Ruhe käme, denn dies war kein Tag der Ruhe, sondern der Abrechnung.
    Doch der Fahle zerbrach.
    Sein Fell bekam Risse, und er bröckelte wie die Klostermauern vor ihren Augen, er zerfiel zu Steinen, Stücken und schließlich zu Staub, und der zurückkehrende Wind nahm das Grau mit sich, um es in alle Richtungen zu verteilen, damit die Menschheit nicht vergaß, dass das Böse immer noch in der Welt war …

VIERZEHNTES KAPITEL
    Hienieden auf Erden rufe ich zu dir,
wenn mein Herz in Angst ist,
    du wollest mich führen auf einen hohen Felsen.
    Denn du bist meine Zuversicht,
    ein starker Turm vor meinen Feinden.
    (Psalm 61,3-4)
    S ie hatten sich übereinandergeworfen, als die Ruine einstürzte.
    Steine flogen weit, und sie hatten sich gegenseitig Schutz gegeben, um nicht von den Trümmern erschlagen zu werden. Sie hatten sich auch gegenseitig festgehalten, um nicht loszulaufen und die Frau zu retten, die doch ohnehin verloren war, denn sie stand unbekleidet inmitten des vernichtenden Trümmerregens. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie zerschmettert werden würde. Nial schrie sein Entsetzen in den Himmel und streckte hoffnungslos die Hände nach ihr aus, als sie von einer dicken, grauen Staubwolke verschluckt wurde.
    Máelsnechtai weinte neben ihm.
    Der modrige Staub aus den alten, zerbrochenen Mauern brauchte ein halbes Menschenleben, bis er sich entschieden hatte, zur Erde zu fallen. Er machte sich breit und dünn und legte sich über sie. Dann war es still.
    Durch die feine obere Schicht schimmerte im Osten das erste Licht der Morgendämmerung – nur ein sachter Hinweis darauf, dass diese Nacht bald zu Ende war. Und die Gewissheit, dass sie einen sehr hohen Preis gezahlt hatten. Lautlos fiel Schnee vom Himmel, rieselte in endlosen Flockenkaskaden langsam und schwer zu Boden und bedeckte die schlafende Staubschicht, damit niemand über die grausigen Ereignisse dieser Nacht schwatzen konnte. Die nächste Nacht würde Frost bringen – Maler des Schweigens, Totengräber des Winters –, und im Frühjahr würde die Ruine von Jarrow vollends vergessen sein.
    Nial hob den Kopf und sah sich um. Die Stille war irritierend – nicht ein Blatt wagte sich zu rühren, kein Vogel, kein Rascheln – nichts. Hatte der Sturm alles Leben hinweggefegt?
    Er hatte zumindest seinen Preis gefordert: Lazarus war von einem Trümmerbrocken erwischt worden, seine Brust war so sehr zerschmettert worden, dass

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