Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Mathilda liebte seidene Wandteppiche und Kleider mit goldbestickten Borten genauso wie sauber gefegte Tonfliesen auf dem Fußboden, damit keine schmuddeligen Binsen an ihren Kleidern hängen blieben. Mathilda benutzte auch ein maurisches Duftöl und wusch ihre Haare mit Eselsmilch. Dank einer Paste aus Olivenöl und Ringelblume waren ihre Hände stets weiß und grasten wie zwei zarte Einhörner auf ihren wunderbaren Altarstickereien. Die englische Königin war Christina immer vorgekommen wie aus einem Märchen entsprungen, und ihre gepflegte Handschrift hatte den eben erst etablierten Herrscherhof von London in kürzester Zeit in einen angenehmen Ort verwandelt.
»Mathilda kann sich vermutlich gar nicht vorstellen, dass man auch so leben kann«, murmelte Christina und deutete mit dem Kinn auf ihr Umfeld. Verzottelte Felle. Graue Lumpen. Kleine Kinder, die Essensreste vom Boden pickten. Der Geruch nach altem Urin und Blut und herabhängende Spinnweben, die sich jedes Mal in den Haaren verfingen, wenn man der Wand zu nahe kam, weil niemand daran dachte, sie mit einem Besen abzufegen.
»Das war aber nicht immer so, erzählt die Köchin«, sagte Katalin, die mit einigen Dienerinnen allen Sprachproblemen und aller Verachtung der Barbaren zum Trotz regelmäßigen Plausch pflegte. Sie fand, nichts konnte lebensrettender sein, als »sich auszukennen«, wie sie es nannte. Agatha schimpfte es Neugier, lauschte ihren Berichten aber trotzdem begierig.
»Als Königin Ingibjörg noch lebte, sah es hier ordentlich aus. Es gab sogar Musikanten aus dem Süden, und sie hatte einen Juden, der sich mit feinen Ölen auskannte. Ingibjörg starb am Fieber, und nach ihrem Tod zog der Lotter in die Burg.« Christina spähte in die Ecken. Der Lotter lag überall herum, unübersehbar – und alt. Älter als die Königin. Viel konnte die norwegische Königstochter, die für einige Jahre das Bett des Schotten geteilt hatte, nicht gegen den Lotter ausgerichtet haben. Ein derart armseliges Frauengemach zeugte von ähnlicher Gleichgültigkeit wie die Einrichtung der königlichen Kapelle, die Malcolm offenbar vollkommen kalt ließ – sonst hätte er doch gewusst, wo der Altar stand.
Sie verzog verächtlich den Mund. »Es heißt ja auch der Lotter.« Katalin kicherte.
»Hört sofort mit dem Getratsche auf«, zischte Agatha, »das gehört sich nicht! Immerhin sind wir hier zu Gast!« Christina verdrehte die Augen. Manchmal war die Mutter strenger als die Schwestern in der Klosterschule.
Die anderen Frauen ließen sich von dem Gerede nicht stören, wenn sie überhaupt etwas verstanden. Oder vielleicht tratschten sie genauso, und man bekam es nur nicht mit, weil ihre Sprache so unverständlich klang. Sie saßen einfach immer hier oben am Feuer, spannen, nähten, nährten Säuglinge und plapperten. Wenn sie damit fertig waren, legten sie sich hin und schliefen. Eine leerte am Morgen die stinkenden Eimer – und der Tag begann von neuem. Keine Gebete, keine Vespern, kein Gott. Gott wohnte in der kleinen Kapelle, zusammen mit dem Priester, der sich jedoch nie auf der Burg sehen ließ. Malcolms Burg war kein Ort für Priester …
Die Lieder, die die Weiber mit kehliger Stimme sangen, klangen so wehmütig und eintönig wie das schlechte Wetter, das hier tagein, tagaus den Himmel grau färbte, und wie der Regen, der an den Mauern herablief, alles durchnässte und nur von einem heftigen Wind abgelöst wurde. Der trocknete kaum, hinterließ auf der Haut eine eisige Klammheit und fraß sich durch bis auf die Knochen. Der Wind von Edinburgh sorgte dafür, dass man jeden Ausflug innerlich an der Tür bereits beendete. Kein Wunder, dass die Weiber ihre Kammer so selten wie möglich verließen.
Trotzdem wanderte Christina umher; sie litt unter der drangvollen Enge. Vielleicht auch, weil eine Sehnsucht in ihr schmerzte, die sie nicht recht benennen konnte. Vielleicht hatte es mit einem Mann am Meer zu tun, der sie auf seinen Armen getragen und ihr Herz gehalten hatte. Der ihr auf so merkwürdige Weise vertraut gewesen war … Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken an den Mann und das Meer und schlang das wollene Tuch enger um die Schultern. Dass es sein Mantel war, in dem sie die Nächte unter den Fellen verbrachte, und dass er trotz Ausbürsten und Lüften immer noch ein wenig nach ihm roch, das brauchte niemand zu wissen …
»Ich hab ein Geschenk für dich.« Edgar strahlte sie an. In seinen Händen hielt er einen dicht gewebten Schal, wie ihn hier am
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