Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
dumme Gerüchte, sagten andere. Er sorge für Ordnung, wie ein König dies eben tue. Er müsse seine Herrschaft festigen, dann würde in Northumbria schon Ruhe einkehren. Christina hörte die Namen von Rebellen, Eadric und Hereward, die dem Normannen das Leben schwer machten und seine Truppen aus Hinterhalten immer wieder angriffen. Niemand wusste so recht, auf wessen Seite sie wirklich kämpften. Niemand wusste, wohin das alles führen würde. Die Sorge wuchs, denn niemand wusste, wie König Malcolm sich angesichts der Bedrohung verhalten würde. Ob er wieder in den Krieg ziehen würde, ein weiteres Mal versuchen würde, Northumbria zu erobern? Gierte er gar nach Englands Krone, wie jemand geflüstert hatte?
Heute Morgen hockten nur zwei Männer unter dem Verschlag, und das war auch gut so, denn ihre Reden hätten für Aufruhr gesorgt.
»Meinst du, es hat überhaupt noch Sinn, für einen angelsächsischen Thronfolger zu kämpfen?«, fragte Morcar und rutschte an der hölzernen Säule des Schmiedeverschlags herunter in die Knie. Sein Bruder Edwin hackte mit dem Messer in das Holz.
»Für irgendwen musst du kämpfen. Willst du etwa für diesen Normannen kämpfen? Der dir dein Land weggenommen hat und dafür sorgt, dass du vor einem verfluchten Schotten buckeln musst?«
Die Earls von Mercia und Northumbria waren stets kriegerisch gestimmt gewesen, erst recht, nachdem der Normanne ihnen ihr Land weggenommen hatte. Als der Kronrat Witan nach dem Fall von Hastings und dem Tod König Harolds Christinas Bruder Edgar die Krone angetragen hatte, waren sie zu Verteidigern des Reiches auserkoren worden, und sie hatten sich beide in der Rolle des Heerführers durchaus am rechten Platz gewähnt.
»Wilhelm würde uns vielleicht vergeben, Edwin«, sagte Morcar da zu ihrem größten Erstaunen. »Das hat er doch schon einmal getan.« Christina traute ihren Ohren nicht. Dachte dieser feige Ritter etwa daran, ihren Bruder zu verlassen? Dem er Treue geschworen hatte? Ihr aufkommender Ärger schien durch die Ritzen des Verschlags zu wehen, denn unvermittelt drehte Edwin sich um und runzelte die Stirn.
»Man sollte sich für Euch schämen, hlæfdige Christina. Ihr treibt Euch an unziemlichen Orten herum, wo eine Dame nichts verloren hat. Mischt Euch in Dinge, die eine Dame nichts angehen. Ihr lauscht, hlæfdige .« Seine Stimme klang scharf. »Euer Bruder wird nicht erfreut sein, dass Ihr dabei ertappt worden seid.«
Christina ballte die Faust unter ihrem Schal und verließ den Schatten. »Mein Bruder wird nicht erfreut sein zu hören, dass man im Verborgenen hinter seinem Rücken über den Sinn von Gefolgschaft nachdenkt.« Der schlanke Earl ohne Land blitzte sie böse an, und die Lust, sie für ihre Worte zu schlagen, stand deutlich in seinen Augen. Allein ihre hohe Geburt schützte sie jetzt noch und dass jeden Moment weitere Zeugen hinzukommen konnten. Sie reckte den Hals noch ein wenig mehr.
»Ich denke, jeder von uns sollte für sich behalten, was gesprochen wurde. Gott wird darüber richten, wenn es an der Zeit ist«, warf sie über die Schulter zurück und wandte sich zum Gehen, bevor die Situation gefährlich werden konnte.
»Malcolm hat völlig recht, wenn er Euch als vorwitzige Närrin bezeichnet!«, rief Edwin ihr hasserfüllt hinterher. Der Kraftausdruck, der noch folgte, trieb ihr das Blut ins Gesicht, aber nein, sie würde sich nicht umdrehen!
»Sie wird den Mund halten, Edwin«, kam es da müde von Morcar, der sich nicht einmal vom Boden erhoben hatte. »Die Zwergin hat gar nicht den Mut, ihrem Bruder zu erzählen, was sie erlauscht hat. Sie versteht es ja nicht einmal. Und er wird ihr auch nichts glauben.« Christina blieb stehen, um tief durchzuatmen. Wie ein grobes Tuch legte sich die raue Umgebung über die Gemüter der Menschen und ließ sie offenbar jegliche Erziehung vergessen.
Langsam drehte sie sich zu den Männern um. »Ich mag zwar eine Frau sein – aber ich kann durchaus zwischen treu und untreu unterscheiden, edler Herr von Northumbria. Seid gewiss – wenn es notwendig ist, werde ich mich erinnern, was ich verstanden habe.«
Ihr erster Impuls war, es Edgar zu sagen und voller Genugtuung mitzuerleben, wie seine beiden Getreuen verstoßen wurden. Doch Edgar war mit Malcolm auf die Jagd geritten, niemand wusste, wann sie zurückkehren würden. Margaret lag im Gebet vertieft in der Kapelle und würde mit Unverständnis auf die Störung reagieren. Wem sollte sie sich anvertrauen? Wer außer Margaret
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