Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
Sand wieder die Böschung hinauf und auf einen schmalen Saumpfad entlang der Felsen. Der Bodennebel kroch ihnen von unten an die Füße und unter die Röcke, und er fingerte ihnen so aufdringlich an den Beinen, dass Christina wie ein Storch durch das nasse, hohe Gras stakste. Trotzdem waren ihre dicken Lederschuhe nach kurzer Zeit durchgeweicht, der nasse Rocksaum klatschte ihr um die Beine, und der verdammte Weg wollte einfach kein Ende nehmen.
    »Du holst dir hier noch den Tod, Mädchen. Was für ein Gedanke«, keuchte Katalin hinter ihr. »Und am Ende ist dieser Mann überhaupt nicht da oder schon totgeschlagen, wie es bei den Schotten ja öfter passiert … Barbarenvolk …«
    »Er ist culdee «, wandte sich ihr Führer an sie. » Culdees sind friedlich und kämpfen nicht. Wenn sie es doch tun und totgeschlagen werden, ist es nicht schade um sie, denn sie sind lausige Krieger.« Es war gut, dass er das ungarische Gemurmel der Amme nicht verstehen konnte, in dem es um Barbaren und Männer im Allgemeinen ging, gespickt mit wenig statthaften Flüchen.
    »Dort vorne findet Ihr ihn, hlæfdige . Ihr müsst nur noch um den Felsen herum, da ist das Lager, da findet Ihr ihn.«
    »Ruaidrí.« Christina hielt ihn an seinem Umhang fest. »Bleibt bei uns, seid so gut.« Seine Nähe hatte das Meer anscheinend im Zaum gehalten, es lag wartend am Ufer und trommelte nur mit seinen Wellenfingern, statt sie nach ihnen auszustrecken. Dennoch wollte sie ihm nicht alleine begegnen. Ihm – dem culdee . Oder dem Meer …
    Zwischen den Felsen am Strand flatterte ein merkwürdiges Lumpen- und Barackendorf im Wind. Aus Treibholz hatten Menschen Hütten errichtet, die mit groben Leintüchern und Binsenmatten verhängt waren. Offenbar hatte der Sturm vor einigen Tagen erhebliche Schäden angerichtet, denn Fetzen flatterten traurig in den grauen Himmel, und überall lagen Binsenreste im Sand verstreut. Es roch nach dem Unrat, den die Armut hervorbringt, es roch nach jener Hoffnungslosigkeit, in der die Armut einen zurücklässt und die unter dem Unrat verborgen schlummert. Greinende Kinder, magere Hunde und vor allem Frauen in armseligen Kleidern, die geschäftig um die Hütten herumliefen und zu halten versuchten, was kurz vor dem Auseinanderfallen war. Der Wind war ihr täglicher Gegner gegen die Obdachlosigkeit. Mit von der Kälte roten Händen mühten sie sich ab, Seile zu knüpfen und Tücher zu spannen – armselige Versuche, die der Wind ihnen tückisch erst dann aus den Händen riss, wenn sie fast damit fertig waren. Sie kämpften dagegen mit Heiligenlitaneien und knüpften die gütigen Namen in die Knoten hinein – und manche hielten dem Wind dadurch sogar stand.
    Ein Mann löste sich aus der Gruppe. Auch an ihm zerrte der Wind herum, zupfte an seiner kurzen Tunika und wirbelte das schwarze Haar um seinen Kopf. Dreist versuchte er die rasierte Stirn mit dem Haar zu bedecken, doch das gelang ihm nicht. Die Stirn dieses Mannes war für Gott vorgesehen, daran änderte nicht einmal der eigensinnige Nordwind etwas.
    Christina erkannte ihn sofort. Nicht sein Gesicht. Es war etwas, was ihn umgab und von den anderen Menschen unterschied. Etwas Warmes, Umfangendes, das ihr Herz erreichte, noch bevor er sie sah. Er drehte sich um und legte seinen Arm um die schmalen Schultern eines Jungen. Der Wind riss von vorne an seiner Tunika und offenbarte ein breites Kreuz mit mächtigen Armen. Ein Kriegerkreuz. Der Wind narrte sie. Das konnte nicht sein. Kein Mönch hatte solch ein Kreuz, solche Schultern. Ihr stockte der Atem. Sie riss sich zusammen, um sich nicht zu verraten.
    »Er ist dort«, sagte sie leise zu Ruaidrí.
    Der nickte. »Das ist Nial, der culdee von Edinburgh. Doch nehmt Euch in Acht, er hat immer wieder Ärger mit dem König, es ist nicht gut, in seiner Nähe gesehen zu werden.«
    »Er hatte Ärger? Welchen Ärger? Nun sagt schon!«
    »Nial war nicht immer culdee «, erklärte der Rothaarige, ganz offensichtlich stolz, sich durch sein Wissen hervortun zu können. »Nial entstammt einer vornehmen Familie und wollte sich dem König nicht unterwerfen, wie sein Bruder es tat. Malcolm zwang ihn daraufhin, in die Kleider des culdees zu steigen und in Armut zu leben, und nun provoziert der Mann ihn, wo er nur kann. Er hat Malcolm die Stirn geboten …«
    »Warum hat er Ärger?«, wiederholte Christina ungeduldig. Da runzelte Ruaidrí die Stirn und nickte hinüber zum Lager.
    »König Malcolm sind diese Leute hier ein Dorn im Auge. Sie

Weitere Kostenlose Bücher