Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
junger Schützling etwas Besonderes war.
Vorsichtig stiegen sie den matschigen Pfad hinab, der noch genauso unwegsam war wie beim letzten Mal. Zwar gab es ein Seil, an dem man sich festhalten konnte, doch der Mantelsaum war jedes Mal bis zum Knie lehmverschmiert, und wenn ein eiliger Schotte vorbeiritt, traf der aufspritzende Schmutz bisweilen auch den Kopf. Christina hatte in ihrem Leben noch nicht in solchem Schlamm gelebt. Bevor sie einmal mehr darüber sinnieren konnte, wie das möglich war, zog Katalin sie weiter, an der kleinen Kapelle vorbei und zwischen den ärmlichen Marktständen hindurch, die an diesem Morgen den kleinen Platz bevölkerten. Hier roch es unangenehm nach Fisch und Hühnermist. Der ewige Wind zerrte an auf Leinen hängenden Trockenfischlappen. Manche konnte er stehlen, und war der Händler nicht schnell genug, zankten sich wilde Hunde um die Beute. Trotzdem stank der Fisch aus jeder Ecke.
Viel gab es sowieso nicht, was feilgeboten wurde – die schottische Erde geizte offenbar mit Fruchtbarkeit. Auch auf der Burg bestand das Essen fast ausschließlich aus Bohnenmus und ein wenig erjagtem Fleisch oder Fisch, und Christina hatte jeden Abend Bauchgrimmen von den ungewohnten Speisen.
Hinter dem Wall erwartete sie nicht nur Regen, sondern auch graue, ernste Einsamkeit, die den Menschen stumm verschluckte, sobald er ihr zu nahe kam. Heute schien niemand die Festung verlassen zu wollen, und so war Christina schon ein wenig beklommen zumute, als sie den steinigen Hügel zur unruhig lauernden See hinunterstieg. Die northumbrische Küchensklavin hatte von Meeresungeheuern erzählt, die man hier an nebeligen Tagen sehen konnte. Das Meer grinste gönnerhaft. Ich zeige sie nicht jedem, raunte es und ließ die Wellen gierig über den Strand lecken. Aber die Neugierigen sahen die Ungeheuer …
Magga würde jetzt beten, dachte sie. Das Meer würde sich davon besänftigen lassen, seine Farbe verändern und die Drohgebärden aufgeben. Und Gott würde für Magga die Wolken auseinanderschieben, damit sie ihr Ziel im Trockenen erreichte. Für sie würde Gott das nicht tun, weil Er ihren Gebeten nicht recht Glauben schenkte. Weil Er wusste, dass sie den kleinen Vogel aussenden und manchen Menschen damit helfen konnte, obwohl sich das nicht gehörte …
»Wo finden wir den Mann, Kind? Du willst doch nicht einfach in die Wildnis?« Die Stimme der Amme klang zutiefst beunruhigt, als sich das graue Wintereinerlei immer aufdringlicher vor ihnen ausbreitete, ohne einen Anhaltspunkt für das Auge zu geben. Eine nasse, menschenleere – eine feindliche Welt. Feindlich. Das war das Wort, wonach Christina die ganze Zeit gesucht hatte.
»Am Meer werden wir ihn finden«, murmelte sie und presste den zusammengerollten Mantel des culdee dichter an sich.
»Wir sind am Meer, Mädchen«, entgegnete Katalin verständnislos. »Wohin jetzt?« Ihre Ungeduld trat immer deutlicher zutage. Als Nächstes würde sie die sofortige Rückkehr in die Burg durchsetzen, um diesen närrischen Ausflug zu beenden. Christina schlang die Hände um den Mantel. Nial würde dort sein. Er war dort und wartete, das wusste sie.
»Erlaubt Ihr Begleitung?«
Die beiden Frauen fuhren herum. Hinter ihnen stand einer dieser Schotten in merkwürdiger Wollkleidung. Sein tiefrotes Haar hing ihm nass und traurig bis auf die breiten Schultern herab. Die Augen glänzten fiebrig, auch Nase und Wangen schimmerten ungesund rot, und man sah, wie er im scharfen Nordwind zitterte.
»Wer hat Euch erlaubt, uns zu folgen?«, blaffte Katalin ihn an, und der Schotte wich erschrocken zurück.
Christina schob die Amme beiseite, um den Mann näher zu betrachten. »Gehört Ihr nicht eher auf Euren Strohsack?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Ihr seid doch krank!«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, hlæfdige . Ich habe ein paar Tage auf dem Wachturm … zugebracht. Es ist nichts. Ich geleite Euch gerne zu dem Mann, den Ihr sucht.«
»Wer seid Ihr, woher wisst Ihr …?«
Der Fiebernde bemühte sich um Haltung. »Mein Name ist Ruaidrí, Sohn des Fergus aus St. Andrews, ich bin ein Mann des Mórmaer von Moray. Und ich weiß, wen Ihr hier unten sucht – ich hab ihn gesehen, als wir nach dem Sturm die schiffbrüchigen Angelsachsen retteten und Euch zur Festung hochbrachten.«
»Führt uns zu ihm«, unterbrach Christina ihn und packte Katalin aufgeregt am Arm. »Genau den suchen wir – und Ihr kennt ihn! Seid so gut, bringt uns hin!«
Ruaidrí führte sie aus dem
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