Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
betteln, und er hasst Bettler. Nial speist sie.«
»Aber das tun Christen«, sagte sie langsam. »Gott segnet einen, wenn man Bettler speist.«
»Ich dachte, er segnet einen, wenn wir die Armen speisen?«, fragte der Schotte verwirrt.
»Er segnet einen, weil …« Dann sah sie ihn fassungslos an – machte er sich über sie lustig? Nein, seine Verwirrung schien echt zu sein. Katalin seufzte laut hörbar.
»Was tun diese Leute hier?« Vielleicht war es besser, den Schotten von Gott abzulenken, von dem er offenkundig nichts verstand. Es gelang nur bedingt. Sie konnte ihre Gedanken kaum sammeln …
Ruaidrí war geduldig. »Diese Leute wollen zum Kloster St. Andrews jenseits des Forth pilgern, sie können sich aber den Fährmann nicht leisten. Der setzt hier über den Forth. Vom anderen Ufer aus ist es noch mal eine Tagesreise, wenn man bei guter Gesundheit ist. Sie bleiben hier am Ufer und hoffen auf mitleidige Seelen, die ihnen eine Fährfahrt bezahlen oder ein wenig Geld schenken. König Malcolm findet, wenn man kein Geld hat oder gar zu krank zum Reisen ist, soll man zuhause bleiben und nicht betteln«, sagte der Rothaarige schulterzuckend.
»Aber das sind dann Pilger und keine Bettler!«
»Unsinn – es sind Bettler, und der König ist im Recht. Wir haben hier im Norden schon genug Probleme, uns durchzubringen, das ist ein hartes Land, das schlechte Ernten und viel Hunger schenkt. Sollen wir dann auch noch Bettler durchfüttern, die meinen, auf Reisen gehen zu müssen?« Christina verschränkte die Arme vor der Brust, das half, den aufkommenden Ärger über so viel Grobheit und Dummheit einzudämmen und ihre Fäuste zu verbergen. Worte fielen ihr darauf keine ein. Aber Ruaidrí war auch nur ein treuer Gefolgsmann des Königs, nicht mehr und nicht weniger …
»Barbaren«, murmelte Katalin für sie. »Der Herr stehe uns bei, wenn dein Bruder Edgar hierbleiben will …«
»Will er ganz sicher nicht. Niemals. Nein. Wir können gar nicht hierbleiben, und das weiß er auch.« Damit marschierte Christina los, weil sie es keinen Moment länger aushielt, dem gottlosen Geschwätz des Schotten zu lauschen, sich die Widerworte zu verkneifen und dabei den culdee nur von ferne anschauen zu können, Mönch hin oder her. Ihr Herz hüpfte unziemlich. Sie hatte ihn endlich gefunden und floh vor jedem weiteren Gedanken.
Wie sie den Weg zu ihm schaffte, wusste sie nicht mehr. Geröll, Sandlöcher, Pfützen. Erinnerungen. Kälte. Regen auf der Haut. Wie lange? Sie stand vor ihm, schaute ihn an und fragte sich, wie sie es bisher ausgehalten hatte … Die Sehnsucht aus den Nächten bekam Gesichtszüge, einen Blick, wurde endlich Wirklichkeit. Scham wallte in ihr hoch für diese Gedanken, er war doch ein Mönch, ein Mann Gottes in Lumpen …
»Bist du endlich gekommen, Christina von England«, sagte er langsam und sehr leise, und ein glückliches Lächeln huschte über sein Gesicht, wie wenn sich die Morgensonne durch Ritzen in der Wand hindurchstiehlt. Und es machte überhaupt nichts, dass er die förmliche Anrede irgendwie hinter sich gelassen hatte. »Ich habe dafür gebetet und mich mit Gott in der Einsamkeit gestritten, ob ich das darf.«
»Du durftest nicht«, flüsterte sie atemlos.
Sein Blick übergoss sie mit Wärme und ließ sie den kalten Wind und die Nässe vergessen. »Ich durfte. Wärst du sonst hier?« Ihr Herz klopfte, durstig trank sie seinen Blick. Durfte ein Mönch sie so anschauen?
»Nein«, flüsterte sie. »Doch … ich … ich wäre trotzdem gekommen …« Der Boden zitterte unter ihren Füßen. Sein Lächeln bewahrte sie davor, das Gleichgewicht zu verlieren.
»Jetzt schäme ich mich auch nicht mehr«, raunte er.
»Du kannst es beichten«, flüsterte sie schelmisch, und es war ihr gleichgültig, wie lästerlich das klingen mochte, und er tadelte sie auch nicht dafür.
»Ich schäme mich nicht mehr«, wiederholte er mit einem zärtlichen Lächeln in den Augen. »Und würde ich es beichten wollen, müsste ich einen weiten Weg gehen, denn das Mutterhaus der culdees steht in St. Andrews, und auf dem Weg dorthin würde ich es mir anders überlegen und zurückkommen …«
Sie betrachtete sein Gesicht mit den markanten Wangenknochen, den Barthärchen, die sich bis fast unter die Augen stahlen, sie ergötzte sich an dem kleinen Höcker auf seiner Nase, der vielleicht Erinnerung an eine Prügelei war, und sie weidete sich an seinen vollen Lippen, die der Bart auf geradezu unverschämte Weise freiließ,
Weitere Kostenlose Bücher