Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
statt sie wie bei anderen Männern halb zu überwuchern.
    »Du musst mich für schamlos halten, Christina von England«, brach es nach kurzem Schweigen aus ihm heraus.
    Sie lächelte ihn an. Eine Mischung aus kindhaft verschwörerischer Kameradschaft und Leidenschaft stieg in ihr hoch. Das fühlte sich wundervoll an, und sie entschied sich keck gegen Gewissensbisse.
    »Weißt du«, sagte sie leise und trat einen Schritt auf ihn zu, was eigentlich schon nicht mehr ging, »weißt du … ich hab im Kloster gelebt, Nial.« Sie nahm seine Hand, betrachtete die dicken Adern, die sie wie ein starkes Netz überzogen. Man sah der Hand an, dass sie mehr als ein Kreuz halten konnte. »Ich weiß nichts über Mönche.«
    Erst sagte er nichts darauf. Und er entzog ihr auch nicht seine Hand. Dann glitt der Schimmer eines erkennenden Lächelns über seine Züge. Er blieb jedoch ernst, nur seine linke Braue tanzte, als er sagte: »Das ist gut, Christina von England. Nun fürchte ich nichts mehr.«
    Dann hatte Katalin sie erreicht und nörgelte los: »Und? Hast du ihm gedankt? Mir ist kalt, lass uns umkehren. All dieser Schmutz hier, das ist kein Ort für dich. Und dieser feuerhaarige Mensch dort sieht so aus, als ob er gleich stirbt, wollen wir uns das auch noch antun? Er jammert. Männer sollten nicht jammern. Und jammernde Barbaren sind das Letzte. Daheim in Ungarn hätte man jammernde Männer an den Füßen aufgehängt, damit sie einen Grund haben. Daheim … ach, daheim. Christina, ich finde wirklich …« Erschrocken hielt sie inne, weil keiner der beiden ihr Beachtung schenkte – tatsächlich waren ihre Worte wie Wassertropfen an Christinas Ohr abgeperlt.
    »Heilige Jungfrau«, murmelte die Amme. »Heilige Jungfrau, Mädchen, was muss ich hier erleben? Du versündigst dich ja …« Nicht einmal diese bedrohlichen Worte fanden Gehör. Sie stand da und starrte ihn an. Wie ein Blatt im Wind schwankte sie leise, und der culdee hielt sie mit seinem Blick fest. Ein Mönch durfte so etwas nicht. Doch so, wie diese Macht sie hielt, würde nur eine höhere Macht sie aus dem Bann dieses Mannes lösen können. Die tat Katalin den Gefallen.
    Ruaidrí war auf einen Stein gesunken. Ein kleines Mädchen wagte sich näher und zupfte ihn am Arm, doch er reagierte nicht. Dann kippte er einfach um, der nasse Sand fing ihn mit einem dumpfen Geräusch auf. Das Mädchen fing an zu schreien, heulte was von »tot« und »Strafe« und duckte sich, als zwei Weiber lamentierend aus den Lumpenzelten angerannt kamen. Der culdee fasste Christinas Hand, und sie erwachte endlich wieder zum Leben. Und weil niemand sie daran hinderte, rückte sie noch näher an seine Seite.
    »Ach. Nun kann er uns nicht mehr zurückbringen«, bemerkte die Amme trocken und mitleidslos. »Entweder sie hauen sich gegenseitig tot, oder sie fallen einfach um. Was für ein Land, Mädchen, was für ein furchtbares Land, dein Bruder muss uns von hier fortbringen …«
    Nial ließ sie los, als wüsste er genau, dass sie gehen musste. Sie hastete durch den tiefen nassen Sand auf den Schotten zu, der stöhnend auf dem Rücken lag. Weil ihre Kleidung vornehm war, machten die Weiber ihr widerwillig Platz. Ihr Geschnatter verstand sie zum Glück nicht, aber es klang wenig schmeichelhaft. So nahe war sie Lumpenpack noch nie gewesen, die zähe Gegenwart war bedrohlich.
    »Herr Ruaidrí, lieber Himmel …« Der Schotte hörte sie nicht, er hatte die Augen verdreht, und seinem Zähneklappern war nicht zu entnehmen, ob er zu sprechen versuchte. Fieberschweiß lief ihm in Strömen über Stirn und Wangen, die Nase, vorhin noch so rot, hatte sich weißlich verfärbt, und sein Mund wirkte so eingesunken und schmal … Er würde sterben. Der Tod hatte seine Hand nach ihm ausgestreckt, er würde sterben. Sie sank neben ihn in den Sand. Sie kannte ihn nicht, nur von diesem kleinen Gang am Meer entlang, trotzdem gehörte er in der nassen Einsamkeit bereits zu ihnen.
    Sein Fieber war so heftig, dass er sie nicht mehr erkannte. Flennend fuchtelte er mit beiden Händen in der Luft herum, kämpfte gegen Geister, die nur ihn belästigten, die nur nach seinem Leben trachteten und gegen die ihm niemand zu Hilfe eilen konnte. Nial stand dicht hinter ihr. Mit ruhiger, weicher Stimme stimmte er ein Gebet an, dessen Melodie ihr wie warmer Honig über den Rücken rann und ihr Halt gab. Die Weiber fielen ein in den gälischen Singsang, der damit den Schmelz verlor und eher wie eine Totenklage anmutete. Es war eine

Weitere Kostenlose Bücher