Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
kleine Mädchen und deutete auf Christina. Nial schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben alle zu Gott für ihn gebetet. Du auch.« Instinktiv drückte er Christina an sich, um sie vor Verdacht und dummem Gerede zu schützen – die Augen der Pilgerinnen verrieten, dass das Gesehene nicht lange am Strand bleiben würde. Es würde hinauf in die Festung wandern und auch an die Ohren derer dringen, die davon besser nichts erfahren hätten … Nial kannte sich aus mit dummem Gerede. Der König hielt nicht viel von den culdees , von den Pilgern noch viel weniger. Von ihm, Nial, hielt er gar nichts. Wenn nun sein Name in der Tratschgeschichte auftauchte, konnte das üble Folgen für sie haben. Nein, es ging jetzt nur noch um ihr Leben …
»Lass sie sofort los!«, zeterte das alte Weib, das ständig um sie herum war. Ihr Gesicht verzog sich zu einer faltigen Fratze; mit langen Fingern zerrte sie an Christina herum. »Lass sie los, in Christi Namen, sie ist ehrbar, lass deine Finger von ihr, Kerl!«
»Willst du sie hochtragen?«, fragte er rau.
»Nein«, meckerte sie sofort. »Das musst schon du tun.«
»Was soll ich denn nun – sie loslassen oder sie hochtragen?«, gab er grob zurück.
»Na hochtragen, du Narr!«, keifte sie, »siehst du denn nicht, wie schlecht es ihr geht?«
»Mit deiner Erlaubnis werde ich sie also hochtragen«, wiederholte er vorsichtshalber, die Alte würde richtig Ärger machen können.
Mit jedem Schritt, den er sie trug, wuchs ihm Christina mehr ans Herz, und je näher sie zur Festung kamen, desto unerreichbarer wurde sie auch. Er war ein Mönch, beim König in Ungnade gefallen, und sie von hohem Geblüt. Als das alte Weib hinter ihm laufen musste, hob er Christina an und nahm sich ganz sachte einen Kuss von ihren Lippen. Dann machte sein Herz einen Satz, und er verlor beinah das Gleichgewicht. Es war abwegig – völlig unmöglich, sie hing ja ohnmächtig in seinen Armen. Doch ihre Lippen hatten sich unter seinem Kuss bewegt. Sie hatten ihn erwidert.
Als Christina erwachte, lag sie zwischen den Fellen der Frauenkammer auf ein Kissen gebettet, und es roch nach Weihrauch. Eine tiefe Stimme sprach wohlbekannte lateinische Worte, an denen ihr zum Sterben müder Geist sich emporzog. » Exaudi, Deus, deprecationem meam, intende orationi meae .« Sie kannte die Stimme nicht, doch ihr Klang tat gut. » A finibus terrae ad te clamavi, dum anxiaretur cor meum. « Ihre Lippen formten die Worte, für die ihre Stimme noch zu schwach war: » In petram inaccessam mihi deduc me! «
Rette dich selbst, hatte Er zu ihr gesagt, als sie am Strand davonflog. Du weißt, dass ich nicht gutheiße, was du vorhast. Ja, sie hatte es gewusst und es trotzdem getan, um dem Sterbenden zu helfen …
»Stina, Stina«, flüsterte Margaret und streichelte ihr Gesicht. »Was machst du nur für Sachen? Warum gehst du hinaus, wenn du doch krank bist?«
»Sie ist nicht krank, Margaret. Sie ist ein táltos . Und das weißt du«, raunte Katalin da.
»Unfug«, fuhr Margaret der Amme böse über den Mund. »Heidnisches Geschwätz! Meine Schwester ist Christin …«
»Sie ist ein táltos , genau wie ihr Großvater Vaszoly. Verschließt nicht die Augen vor der Wahrheit, vor eurer magyarischen Herkunft. Ihr habt immer gewusst, dass ihr durch eure Mutter, so vornehm sie auch sein mag, magyarisches Blut in den Adern führt. Euer Großvater war ein táltos . Und deine Schwester trägt ebenfalls das Heilererbe in sich.« Christina versuchte die Augen zu öffnen. Sie wusste, wie sehr ihre Schwester diese Geschichten hasste, aber sie wusste auch, dass sie wahr waren.
»… sie hat einen Mann vom Tod zurückgeholt, ich habe es selbst gesehen«, raunte die Amme mit dunkler Stimme.
»Lass das gotteslästerliche Geschwätz, Katalin!«, zischte Margaret. »Ich will das nicht hören! Kein Mensch kann einen anderen vom Tod zurückholen!«
Katalin ließ sich nicht abhalten. »Ich habe wieder gesehen, wozu deine Schwester fähig ist, Mädchen. Das kann man nicht wegbeten. Sie kann es. Sie ist ein táltos , akzeptier das doch.«
Weihrauch zog durch den Raum. Seine zarten Finger haschten nach Katalins Worten und versuchten sie auszulöschen. Doch die Worte waren zu stark. Die Augen des Priesters wurden immer größer, als er begriff, was die Amme gesagt hatte.
»Kein Wort mehr davon, hörst du«, sagte Margaret sichtlich beunruhigt. »Das geht niemanden hier etwas an.« Christina spürte ihre Sorge wie eine Last … eine schwere Last auf der
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