Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
sollte nicht bei den Dienern sitzen, und Gott möge Eurer Mutter ihre Ungezogenheit vergeben.« Wo er recht hatte, musste man ihm recht geben.
»Danke«, flüsterte Christina, nun völlig verwirrt über den plötzlichen Sinneswandel Morcars, der genau wie sein Bruder Edwin bisher nicht durch Höflichkeit aufgefallen war. Schon gar nicht seit jenem Nachmittag im Burghof. Doch hier in dieser Situation tat er das einzig Richtige und brachte Christina dorthin, wo sie von Geburts wegen sitzen sollte. Er hielt sie auf dem schwankenden Schiff fest, als sie beinah das Gleichgewicht verlor, und führte sie sicher an Ruderern und an den unruhigen Pferden in der Mitte des Bootes vorbei, die den Transport sichtlich verabscheuten und von den Pferdeburschen nur schwer zu halten waren. Er polsterte sogar ihren Sitz mit seinem Mantel und veranlasste Katalin durch eine Handbewegung dazu aufzurücken, damit Christina mehr Platz hatte.
»Na, hast du dir mit deiner frechen Zunge doch noch einen Gönner geschaffen?«, fragte die Amme spöttisch. »Und nicht den schlechtesten, würde ich meinen.« Dann legte sie Christina sanft die Hand auf den Arm. »Alles nicht leicht für dich, Mädchen. Halte dich gerade, nur das wird dir ab jetzt unter den Barbaren noch helfen können.«
Mit diesen rätselhaften Worten verstummte die Ungarin und ließ Christina mit der Sorge zurück, welche Ränke sich wohl hinter ihrem Rücken abspielen mochten. Und je weiter sich das Südufer des Forth entfernte, desto stärker wurde das Ziehen in ihrer Brust, weil sie jemanden vermisste …
Der, um den sich ihre Gedanken webten wie ein zarter Hopfentrieb, stand am Ufer vor den Pilgerhütten und schaute in das graue Einerlei. Sein Glaube brachte ihm keine Hoffnung, das Gebet keine Zuversicht. Düsternis umflorte sein Gemüt, der morgige Tag würde noch grauer sein als dieser, denn einer der Jungen hatte die Kunde gebracht, dass der König mit seinem gesamten Gefolge aus Edinburgh aufgebrochen war. Auf Schiffen seiner Flotte war man über den Forth gesetzt, um in Dunfermline Hochzeit zu feiern, hatte der Junge erzählt.
Sie war fort.
Nial ließ sich in den nassen Sand fallen. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das schwarze Haar und kratzte sich mit den Fingernägeln über die rasierte Stirn. Das vermochte die Gedanken an sie nicht zu tilgen. Sie, die er vermisste wie keine andere Frau in seinem Leben, obwohl er sie nur zweimal getroffen hatte. Sie war wohlauf, hatte ihm dieser Rothaarige gesagt. Es war ihre Schwester, die man verheiraten, zur Königin machen würde. Sie aber, Christina, sie blieb das Mädchen, zart und klein und schutzbedürftig, und nur er wusste, wie sehr dieser Schein trog.
Er hatte ihre Stärke gespürt, das unbändige Leben, das sie in sich trug, und ihre lächelnde Hingabe hatte sich auf seine Lippen gebrannt wie ein Mal, das selbst Kasteiung nicht würde tilgen können. Nial hatte viele Frauen gehabt, hatte im Vaterhaus zusammen mit seinem Bruder jedem Weiberrock nachgestellt und dem Bruder so manche schöne Frau abspenstig gemacht, was ihm dessen tiefen Hass eingetragen hatte. Doch keine hatte solche Spuren hinterlassen wie Christina, obwohl er sie nur kurz in seinen Armen gehalten hatte …
Nial stöhnte und fragte sich, ob es für diese Leidenschaft Absolution geben konnte.
Über der Aufregung, nach Dunfermline zu kommen, vergaß Christina einstweilen ihre Sorgen. In der Tat befand sich hier eine kleine Stadt, und die Burg, die man auf dem Hügel erbaut hatte, bot ausreichend Platz für alle Gäste, Pferde und das Dienstvolk. Sie war ausgelegt auf einen königlichen Haushalt, wie Christina es vom Hof König Wilhelms in London gewohnt war. Eine große Halle mit mehreren Feuerstellen und einer langen Tafel, die nicht wie in Edinburgh abgebaut werden musste, sondern immer stehen blieb, weil sich stets genug Gäste in Dunfermline befanden. Dazu gab es Schlafkammern und ein separates Küchenhaus, wo ein dicker, schweigsamer Franke über blank polierte Kupferkessel herrschte. Den habe Malcolm von einem seiner Kriegszüge aus Yorkshire mitgebracht, hieß es an den Feuern. Kein Schotte könne ja solches Essen zubereiten. Und nun, da es eine neue Königin geben würde, würde man wieder öfter bei gutem Essen zusammensitzen.
Morcar wich nicht von ihrer Seite.
»Was wollt Ihr eigentlich von mir?«, fragte sie angriffslustig.
»Euch meine Treue beweisen – vielleicht?«, antwortete er ironisch. »Ihr warft uns mangelnde Treue vor,
Weitere Kostenlose Bücher