Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
wirkten wie Augen, in deren unendlichen Tiefen eine Botschaft für sie lag, eine stumme Aufforderung, ein Ruf … Oder eine Warnung …?
Das Buch wollte nicht hier liegen bleiben. Keinesfalls. Es wollte in die Kirche gebracht werden. Das begriff sie. Und so hob sie es vom Boden auf, wickelte es in ein Leintuch vom Bett und stürzte aus der Kammer, dem König und ihrer Schwester hinterher.
Margaret lag vor dem Altar, noch halb in Malcolms Armen, und schluchzte. Von der anderen Seite bemühte sich Fothad um sie, einer der Mönche stand ratlos daneben und schwenkte sein Weihrauchgefäß, wohl um irgendwas zu tun. Wie ein grauer Helm stülpte sich der Weihrauch über ihren Kopf – dass er sich anschickte, ihr die Besinnung zu rauben, bemerkte niemand von den Männern.
Selbst die Kerzen, die man entzündet hatte, schienen mit dem Zustand der jungen Königin nichts anfangen zu können. Sie flackerten ungehalten, zwei von ihnen verloschen gleich wieder, als die Kirchentür hinter Christina ins Schloss fiel. Malcolm drehte den Kopf. Als er Christina erkannte, stand er auf und marschierte auf sie zu. Instinktiv wich sie zurück, tastete nach der Tür …
»Kommt her, Zwergin!«, befahl er barsch. »Beruhigt sie – macht, dass sie aufhört! Ich kann das nicht mit ansehen! Tut irgendwas!« Die Wände warfen seine Stimme empört zurück. In der Kirche schreit man nicht. Ungeduldig wedelte er mit dem Arm, vermutlich genauso ungeduldig wie die Wache, die draußen vor der Tür auf seine Weisung hin die Neugierigen davontrieb.
Sie nickte stumm. Schob sich an ihm vorbei, außerhalb der Reichweite seiner Faust, denn ihr Gesicht schmerzte immer noch von dem Schlag, und sie wusste jetzt, dass dieser Barbar sie auch töten würde, wenn ihm danach war. Neben Margaret sank sie auf den Boden. Das Stundenbuch schob sie unter ihren Rock, um die Schwester nicht zu erschrecken, die jetzt von sich aus beide Arme um ihre Taille legte und sich an sie klammerte.
»Stina«, stammelte sie, »Stina, die Bilder, ich kann sie nicht vertreiben, sie sind in meinem Kopf, sie sind überall, in meinen Ohren, im Mund, in meinem Bauch – Stina – mach sie weg …« Ihre Zunge war schwer vom Weihrauch, und auch die tränenverklebten Lider hoben sich kaum. Doch die Angst konnte ihr der Weihrauch offenbar nicht nehmen. Christina zog sie auf den Schoß und streichelte mit beiden Händen ihren Kopf und das lange blutverschmierte Haar, und sie war ratlos, so ratlos …
»Welche Bilder, Magga? Welche Bilder? Sag es mir. Liebste Magga … welche Bilder …?«, murmelte sie unablässig. Es hatte keinen Sinn, das Blut aus Margarets Gesicht zu wischen, immer neues Blut quoll aus den Nasenlöchern hervor und lief ihr über das Kinn den Hals hinunter. Doch Christina hatte keine Angst mehr vor dem Blut, Margaret hatte schon früher geblutet, wenn sie sich aufgeregt hatte. Nichts an der Schwester machte ihr Angst. Sie war nicht besessen, das wusste sie jetzt, da sie, flankiert von Gottes Güte, dicht bei ihr hockte und niemand mehr herumschrie und mit Totschlag drohte. Sie war nicht besessen, nur verängstigt. Alles würde gut werden – alles. »In Deo tantum quiesce …« Alles würde gut werden.
Die Männer waren still geworden, sie fühlte ihre Blicke, ihre Fragen, ihre immer noch große Furcht. Wegbleiben sollten sie, sich keinen Schritt näher wagen! Ihr Wille war offenbar stark genug, sie auf Abstand zu halten; nicht einmal der König traute sich näher heran. Befriedigt wiegte sie ihre Schwester wie ein Kind in den Armen, umfing sie mit ihrer ganzen Kraft und Liebe, um sie vor den bösen Geistern zu schützen, die so urplötzlich nach ihr gegriffen hatten.
Dann lag Margaret ruhig da. Sie drehte ihren Kopf zwischen Christinas Schenkeln, und ihr Blick war für einen Moment so klar und schön, wie er immer gewesen war.
»Das Buch«, sagte sie mit rauer Stimme. »Die Bilder sind in dem Buch.«
»In dem Stundenbuch?«, flüsterte Christina.
»Ja«, flüsterte Margaret. »Es ist verflucht. Jedes Mal, wenn ich es aufschlage, kommen die Bilder und fallen über mich her – jedes Mal. So furchtbare Bilder, Stina – laute Bilder, so laut, dass meine Ohren davon schmerzen. Und so grausam … das Buch ist verflucht, Stina. Malcolm … er … er hat mir ein verfluchtes Gebetbuch geschenkt …« Ihre Brauen zogen sich in Verzweiflung zusammen.
»Was sagt sie?« Malcolm schoss auf sie zu. »Was hat sie gesagt? Sprecht!«
» A rìgh , lasst sie doch zur Ruhe
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