Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Strähnen aus der Kopfhaut, es peitschte auf die Gesichter und hinterließ Striemen, die in der Kälte mit spitzen Zähnen zubissen und die in der Wärme des Hauses wie Feuer brennen würden … Der Umweg kostete sie viel Zeit, und als sie endlich am Fuß des Hanges angekommen waren, hatte die müde Sonne längst aufgegeben und das Tal in eisigem Dämmerlicht zurückgelassen.
Beth konnte es kaum fassen, dass sie bis zu dem Gehöft insgesamt fast einen ganzen Tag gebraucht hatten. Sie kannte zumindest die Gegend und wusste, dass man es viel weiter hätte schaffen können, wenn man zügiger gegangen wäre. Damit sie sich das hinter die Ohren schrieben, wiederholte sie es immer wieder. Christina begann, unter Beths Nörgelei zu leiden. Hunger und Kälte hatten sie kleingemacht, ihre letzte Energie war im Dornengestrüpp hängen geblieben. Hatte sie mal Kraft für andere gehabt? Kleine Vögel in ihren Händen, die Wärme bringen konnten? Katalins Geschichten von táltos und ihrer besonderen Bestimmung schienen ein Menschenleben her zu sein, vielleicht waren es auch nur Geschichten. Sie hatte es verloren, so, wie sie Katalin verloren hatte, und noch viel mehr …
Selbstmitleid bindet Bleiklumpen an die Füße und macht jeden Schritt so schwer wie zehn. Und Beth traf den Nagel auf den Kopf. »Wenn Ihr Eure Gedanken nach vorne werfen würdet, statt sie in Eure Füße zu stecken, würden wir schneller vorankommen, hlæfdige . Denken hat beim Laufen noch nie geholfen. Händler und Krämer würden nämlich niemals ankommen, wenn sie so viel denken würden, wie Ihr das tut.«
Verletzt starrte Christina den breiten Rücken ihrer Begleiterin an. Sie hasste es, mal wieder als Störenfried abgestempelt zu werden, und schleppte sich schwach und den Tränen nahe hinter dieser Frau her, die immerhin ihren Mann umgebracht hatte … man wusste bei solchen Gedanken doch nicht, wozu die noch alles fähig war.
Der Hunger gaukelte ihr irgendwann auch böse Fantasien über Beths Hilfsangebot vor. Vielleicht wollte sie doch das vergoldete Buch. Ihre Kleider. Oder ihr Haar – die Frauen auf der Burg hatten von herumziehenden Weibern erzählt, die andere Frauen erschlugen, um an deren Haar zu gelangen und es an reiche Damen zu verkaufen …
»Sicher hat der Bauer was zu essen für uns.« Beth drehte sich um. »Seht nur, da steigt Rauch auf.« Das Lächeln zauberte ein Netz aus Fältchen über ihre verbrauchten Züge und kräuselte die grobe Nase, und es war so ehrlich, dass ihm nicht einmal die bizarren, in alle Richtungen stehenden Zahnstummel etwas anhaben konnten. Christina schämte sich für ihre bösen Gedanken.
»Sicher«, nickte sie und beeilte sich, sie einzuholen. Beth wehrte mit ihrem Stock schon zwei struppige Hunde ab, die böse knurrend und kläffend an ihr hochsprangen und mit ihren vereisten Tatzen deutliche Spuren auf ihrem Rock hinterließen.
»Haut ab, verdammte Köter!«, schrie sie und drehte sich mitsamt ihrem Stock im Kreis, dass die Röcke flogen – und ein Hund ebenfalls. Als er reglos im Schnee lag, zog der andere den Schwanz ein und trollte sich.
Eine Tür klapperte. »Wer da?«, schnarrte es. In der aufkommenden Dämmerung war kaum zu erkennen, wer dort in der Tür stand … Christina zog die Schultern ein. Die Tür wirkte alles andere als einladend. Oder woher kam plötzlich das dumme Gefühl? Sie wollte das Haus nicht betreten, doch es war schon zu spät.
»Reisende, von der Nacht überrascht!«, rief Beth zurück. »Hast du ein Lager für uns? Gott soll es dir lohnen, guter Mann.«
»Gott soll’s mir lohnen – so, so. Ihr könnt also nichts zahlen.«
»Ich kann dir Warzen wegmachen. Und Pickel ausdrücken. Ich kann dir sogar Zähne ziehen und deine Füße so salben, dass sie dir nicht mehr schmerzen.«
»Das hört sich gut an!« Nun öffnete die Tür sich noch ein Stück, und eine Unschlittkerze flackerte im Nachtwind. »Kommt herbei, ich will euch ein Nachtlager geben, und aus meinem Kessel sollt ihr wohl auch etwas haben.« Er lachte gackernd.
»Aus seinem Kessel – nehmt Euch in acht, hlæfdige «, raunte Beth hastig, »vielleicht steht diesem Haushalt keine Herrin vor – haltet Ihr lieber den Mund, haltet bloß Euren Mund!« Dann hatten sie schon den Eingang erreicht, und das Licht winkte sie näher. Christina drückte ihr Buch bebend an sich. Der Hofherr war immer noch nicht zu erkennen. Irgendwo wimmerte der verletzte Köter, ein Kauz schrie grell in der Dämmerung. Der garstige Schneewind
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