Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Sicherheit. Allmächtiger! »Nial«, flüsterte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Die Frau packte sie. »Folgt mir! Rasch! Bruder Nial kann Euch jetzt sowieso nicht helfen! Ihr müsst Euch selbst helfen, hlæfdige – kommt!« Und sie riss an Christinas Hand und führte sie im Laufschritt noch weiter vom Kampfplatz weg, bis ihnen Büsche in die Gesichter peitschten, zum Zeichen, dass sie die pflanzenlose Uferregion verlassen hatten. Immer wieder versuchte sie sich umzudrehen, Ruaidrí musste doch auch irgendwo sein, auf wessen Seite stand er eigentlich, würde er Nial nicht helfen können?
»Warte doch, warte, wir können nicht weglaufen, wir müssen bleiben – Nial …«
Die Frau drehte sich abrupt um. »Wollt Ihr diesem Kerl entkommen? Oder nicht? Wenn Ihr ihm entkommen wollt, bringe ich Euch fort von hier.« Sie studierte Christinas Gesicht. »Ich hätte Verständnis dafür. Aber Ihr müsstet tun, was ich Euch sage. Und Ihr müsstet mit einer Sünderin vorliebnehmen.«
Sie standen dicht beieinander, erahnten die andere nur an den Umrissen – in Schottland schien es auch im Morgengrauen niemals hell zu werden. Ihre Retterin roch nach Fisch und nicht so miefig wie die Weiber in der Burgkammer. Irgendwie machte ihr das Mut.
Christina runzelte die Stirn. »Ach … sind wir nicht alle Sünder vor Gott? So schwer können deine Sünden nicht sein, und immerhin hast du mich gerade vor einem Unglück bewahrt.«
Es war zwar eigentlich keine Zeit, aber offenbar doch der Zeitpunkt für Geständnisse. Die Frau nahm ihre Hand. »Ich habe meinen Mann getötet, hlæfdige .« Sie rückte ihr Kopftuch gerade. »Ich bin Beth, die Mörderin. So nennen sie mich hier. Ihr wisst es jetzt auch. Ich war auf dem Weg nach St. Andrews, wollte um Vergebung … na ja. Ihr wisst selber, wie man mich eigentlich bestrafen müsste. Ich denke, dass sie mich in St. Andrews nach Jerusalem schicken werden, damit ich meine Schuld mit dem Leben bezahle, weil kaum jemand die Reise ins Heilige Land überlebt …« Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Gott wird mir das ohnehin nicht vergeben. Da kann ich genauso gut Euch helfen, diesem Kerl zu entkommen.« Ein unweibliches Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Ich bin sicher, damit werden wir mehr Zerstreuung haben als mit einer Reise ins Heilige Land.«
Sie war ganz sicher keine passende Begleitung. Christina dachte fieberhaft nach, was ihr von dieser Frau alles drohen konnte. Mit einer Mörderin reisen – vollkommen unmöglich!
»Ich tu Euch nix«, sagte Beth da, als hätte sie geahnt, was in Christinas Kopf vorging. Mit dem Finger malte sie Kreise in den Sand. »Wisst Ihr … ich hab seine Prügel nicht mehr ausgehalten. Jeden Tag Prügel, jeden verdammten Tag Prügel. Das kann Gott nicht wollen für eine Frau.« Dann schwieg sie, und das Rauschen der Ginsterbüsche strich über ihre verletzte Seele und erzählte von Absolution.
Christina starrte sie eine Weile betroffen an. Als sie sich bequemer hinhockte, stieß sie mit der Hand an das Buch. Und erinnerte sich daran, dass sie sich auf eine lebensgefährliche Reise begeben hatte, deren Ziel sie nicht kannte – und den Weg dahin auch nicht. Vielleicht war Beth die beste Begleitung, die sie sich wünschen konnte. Sie entschloss sich, mit der Wahrheit herauszurücken.
»Ich bin auf dem Weg zum Kloster Jarrow. Weißt du, wie man da hinkommt?«
»Jarrow.« Die Mörderin sah sie scharf an. »Das weiß ich wohl. Aber da ist kein Kloster mehr. Das hat der Schottenkönig dem Erdboden gleichgemacht.«
»Ich muss trotzdem dorthin.« Ihr Herz begann zu klopfen. Ein zerstörtes Kloster – wie sollte das Buch dort gereinigt werden, wenn niemand mehr dort war? Furcht griff nach ihr. Furcht vor dem falschen Weg, vor dem Scheitern, auf Kosten ihrer Schwester …
Beth betrachtete ihr Gesicht im frühen Morgenlicht. »Wenn eine Frau wie Ihr sich vornimmt, den weiten Weg in ein zerstörtes Kloster zu gehen, dann hat sie ihren Grund. Und Ihr seid sehr klein – vergebt, aber das wird es nicht leichter machen für Euch.« Und dann stand das einfache Weib auf und verneigte sich vor Christina. »Vielleicht ist es eine Gnade Gottes, dass Er Euch geschickt hat. Ich will Euch begleiten und alles mit Euch teilen, damit Ihr Euer Ziel erreicht, liebe Dame. Habt keine Angst vor mir.« Ein Lächeln verschönerte ihre groben Züge. »Jerusalem ist vielleicht gar nicht so weit weg, wie ich immer gedacht habe.«
SIEBTES KAPITEL
Und ich sah,
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