Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
und siehe, ein weißes Pferd.
Und der daraufsaß, hatte einen Bogen;
und ihm ward gegeben eine Krone,
und er zog aus sieghaft, und dass er siegte.
(Offenbarung des Johannes 6,2)
B eth war unerbittlich.
Sie lief auf riesigen Füßen durchs Leben, und ihre starken Schenkel schienen mit dem Laufen keine Mühe zu haben – weder durch tiefen Schnee noch über gefrorenen Boden. Niemals stolperte sie, niemals knickte sie ein. Mit eisernem Griff hielt sie Christinas Handgelenk umklammert, damit diese ihr nicht abhandenkam oder sich gar fallen lassen konnte, wie sie es im Morgengrauen versucht hatte, weil sie für jeden weiteren Schritt zu müde war.
»Ihr wollt nach Jarrow? Dann müsst Ihr laufen, hlæfdige – so, wie es die einfachen Leute auch tun. Die, die kein Geld für ein Pferd haben, und die, die um Vergebung bitten wollen.«
»Nur ein wenig ausruhen«, wimmerte Christina. Vorsichtig tastete sie nach ihren Füßen, aus denen jedes Gefühl verschwunden war. Und bald würde auch die Sohle der Lederlappen durchgelaufen sein. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie keine richtigen Schuhe. Das grobe Leintuch, welches sie sich zum Schutz vor dem harschen Wind um den Kopf geschlungen hatte, war vom Schnee durchnässt und lastete schwer auf ihrem Haar. In ihrer Lunge brannte es, nachdem sie diesen steilen Hügel hinaufgehastet waren – ein Hügel von vielen, die noch vor ihnen lagen, wie das Morgenlicht schüchtern preisgab. Sie hatte keine Idee, wo sie war, und wenn Beth sie in die falsche Richtung gelockt hätte, wäre ihr das nicht aufgefallen, weil sich die Sonne nicht zeigte.
»Nur eine kleine Pause machen, dann kann ich wieder weiter.«
»Ihr könntet mir auch Euren schweren Sack geben«, schlug Beth vor. »Aber das wollt Ihr ja nicht.« Und sie lachte spöttisch auf, als Christina das Leinenbündel instinktiv eng an sich raffte, als würde der Dieb bereits vor ihr stehen.
» Hlæfdige .« Sie stellte sich aufrecht vor Christina hin. »Ich bin nur ein einfaches Weib, und sicher habe ich aufgrund meiner schweren Schuld und weil ich eine Frau bin kein Recht, einen Schwur zu leisten.« Sie zog die Nase trotzig hoch. »Ich tu’s trotzdem, verdammt. Ich schwöre beim Grab meiner Mutter, dass ich Euch nach Jarrow bringen werde – lebend und mit Eurem verdammten Bündel, das Euch so wichtig ist, dass Ihr es nicht mal zum Scheißen aus der Hand geben mögt. Ich bring Euch hin, und wenn es mich mein Leben kosten sollte. Beim Grab meiner Mutter schwöre ich das. Ja.« Mit beiden Händen strich sie sich das nasse Haar aus dem Gesicht und nickte noch einmal zur Bekräftigung.
»Und jetzt solltet Ihr tapfer sein und aufstehen und mitkommen – weil ich nämlich meinen Schwur sonst nicht erfüllen kann, hlæfdige .« Sie grinste. »Und meine Mutter würde sich im Grab umdrehen – die war eine strenge Frau und würde niemals zulassen, dass ich meine Aufgabe nicht erfülle. Ihr würdet ihr nicht begegnen wollen.« Und sie hielt Christina ihre schwielige, frostrote Hand hin, ein herbes, aber ehrliches Versprechen, sie von nun an zu halten und ihr über steinige Wege und sturmumtoste Höhen zu helfen.
»Lass uns noch ein wenig hier ausruhen, Beth.«
»Nein. Ihr habt schon zweimal ausgeruht, und wir sind noch nicht mal außer Sichtweite des Forth. Wie viele Monate wollt Ihr bis Jarrow wandern?«
»Ich weiß nicht …? Wie viele Monate sind es denn?«
Christina war viel zu müde, um sich über den unverschämten Tonfall der Frau aufzuregen. Sie zog das Bündel an die Brust, wo es sich mit seinen Kanten bösartig in ihren Busen grub. Der Schmerz weckte ihre Lebensgeister. Wie würde es erst Margaret ergehen? Als Geisel in der Kathedrale, einen zornigen Malcolm neben sich? Sie hatte doch kein Recht, hier herumzujammern! Margarets liebevolles Lächeln streifte durch ihren Geist … das war es. Für ihr Lachen lohnte sich jede Strapaze.
Als sie sich aufrichtete, protestierte der Rücken nur noch ein bisschen. Die Hand der Frau brachte ihn vollends zum Schweigen.
»Vielleicht können wir irgendwo ein Maultier leihen«, sagte sie tröstend. »Habt Ihr Münzen, hlæfdige ?« Christina schüttelte den Kopf.
Beth zog die eisverkrusteten Brauen hoch. »Ich hatte gedacht, jede vornehme Dame hat Münzen in ihrem Beutel. Sie werfen sie doch immer …«
»Ich hab keine«, unterbrach Christina sie. Ihr Almosenbeutel war leer, ihr Geld befand sich in den Taschen des Knappen und im Grab des Fährmanns am Flussufer.
»Gut«, sagte
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