Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Beth. »Dann werden wir eben laufen.« Christina hatte dem nichts entgegenzusetzen, und – laufen! – sie dachte darüber auch lieber gar nicht erst nach, was es bedeutete, den ganzen Weg zu laufen. Zum Glück wusste sie nicht, wie weit es bis zum Kloster war. Und wenn sie ehrlich war – sie wollte es auch gar nicht wissen. Schweigend marschierten die beiden Frauen los, stiegen von dem Hügel herunter ins Tal und vermieden es fortan, nach oben zu schauen, weil sich dort nur ein neuer Hügel vor ihnen auftürmte und noch einer und noch einer: der Weg in den Süden.
»Glaubst du, er wird uns finden, Beth?«
Das Gehöft lag wie eine saubere Verheißung vor ihnen, schneeumweht und in dicke weiße Decken eingewickelt, damit niemand frieren musste. Vom Fuß des Berges aus betrachtet, hätte es auch ein Märchen von Frieden und Glück sein können. Ein Märchen von Ankommen und Ausruhen, von Geborgenheit, von Sicherheit. Christina holte tief Luft und kämpfte ihre Erwartungen nieder. Vielleicht zumindest eine Feuerstelle. Dünnes Abendlicht lag über dem geduckten Dach, Eiszapfen zwinkerten vom First, und eine schmale Rauchsäule wand sich in den Wolkenhimmel. Es gab ein Feuer dort. Vielleicht sogar etwas zu essen. Zitternd wickelte sie sich den Mantel enger um die Hüften. Das grob gewebte, dicke Material hatte den Schnee zu Beginn ganz gut abgewehrt, doch nun war es durch und durch feucht geworden und lastete schwer auf ihrem ausgehungerten Körper. Sie verbot sich auch das Klagen und drängte mannhaft die Kälte von sich. Wenn sie erst darüber nachdenken würde, wie sie hierhergekommen war, wie viele hundert – ach, abertausend Schritte es gewesen waren, wie oft der Schnee ihr in dicken, nassen Flocken ins Gesicht geklatscht war und wie sehr sie gegen die zunehmende Schwäche in ihren Beinen hatte ankämpfen müssen, würde sie keinen Steinwurf mehr weiterschaffen …
»Glaubst du, er wird uns hier suchen und finden …?« Der Gedanke an Nial gab ihr auch jetzt Kraft, so wie in all jenen Wochen in der Festung von Edinburgh, wo sie heimlich an ihn gedacht hatte, wenn Furcht und Einsamkeit sie zu überwältigen drohten.
»Wer – Nial?« Beth lächelte verschmitzt unter ihrer eisgesäumten Kapuze hervor. » Hlæfdige , wenn Bruder Nial Euch finden will, dann findet er Euch. Ich habe noch niemals einen Mönch getroffen, der eine Frau derart anschaut. Er wird Euch finden, und wenn Gott ihn dafür in die Hölle schickt.«
»Und ich habe noch niemals einen Mönch gesehen, der so mit der Waffe umgehen kann«, murmelte Christina mehr zu sich selbst. Die andere lachte laut. »Da kennt Ihr die Schotten wohl schlecht, hlæfdige .«
»Aber er ist ein Mönch, Beth.« Christina runzelte die Stirn. »Wie kann ein Mönch so … so …«
Beth nahm ihren Arm. »Ich bin nur eine einfache Frau, hlæfdige . Aber auch ich weiß, dass Männer aus den unterschiedlichsten Gründen ins Kloster gehen. Längst nicht alle landen dort, weil sie Heilige sind. Und wenn Euer Nial der Bruder des Besuchers ist, dann könnt Ihr Euch ausrechnen, aus welchem Stall er kommt und was er getrieben hat, bevor er sich das Hirn rasierte. Er wird die Waffe zu schwingen wissen, Mädchen.«
Das meinte Christina nicht. Dass er aus einem Hause stammte, wo man mit Waffen umgehen lernte, hatte sie ja nun erfahren. Aber die heftige Brutalität, mit der diese beiden Brüder aneinandergeraten waren, dieser Kampf, der ganz klar auf den Tod des anderen zielte, der hatte sie erschreckt. Was hatten die Brüder einander nur angetan, das solchen Hass rechtfertigte? Wie konnte man den eigenen Bruder ernsthaft töten wollen?
Beth drückte ihren Arm und zog sie vorwärts. »Kommt. Denkt jetzt nicht an ihn. Wenn Gott es für euch beide so vorgesehen hat, wird Bruder Nial Euch finden. Und dann wird er Euch seine Geschichte schon erzählen.«
Ziegen hatten über viele Jahre hinweg mit ihren flinken Hufen kleine Terrassen in den Berg getrampelt. Jetzt bedeckte eine dicke Schicht Schnee diese Terrassen, doch fanden die Füße der beiden Frauen immer noch Halt. Keine von ihnen rutschte an dem steilen Hang herunter. Das Abendlicht zeigte ihnen noch einmal, wie gefährlich das werden konnte: Aus einem herabfallenden Schneeklumpen wurde eine kleine Lawine, die Teile des Hanges unter ihnen mit sich riss. Fluchend änderte Beth die Richtung, zog Christina mit sich in ein niedriges Gehölz. Dichtes Geäst zerrte an ihren Kleidern, senkte sich in ihre Haare und riss ganze
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