Die Stunde Der Toechter
Kellner das Glas zurück. »Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?«
Judith versuchte zu lächeln. »Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie wissen.«
Der Mann half ihr auf die Beine. Dann reichte er ihr die Tasche. »Wollen Sie jemanden anrufen? Soll ich ein Taxi besorgen?«
Die Zuschauer verzogen sich.
Judith wartete einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Es geht schon. Danke vielmals.«
Sie drückte dem Mann die Hand und ging langsam zum Bahnhof zurück. Dort nahm sie den Bus. In der Lorraine holte sie ihren Sohn von der Krippe ab. Gemeinsam gingen sie nach Hause. Das Abendessen war schnell auf dem Tisch. Ihr Partner brachte den Kleinen ins Bett.
59.
Johanna di Napoli war über Nacht im Emmental geblieben. In einem Landgasthof hatte sie Fotzelschnitten mit Zwetschgenmus gegessen. Früh am Morgen war sie nach Zürich gefahren. Der Pendlerverkehr war immens. Staunend war sie mit der trägen Blechlawine in die Stadt gerollt. Direkt ins Büro. Von Kranach hatte für den Nachmittag eine Sachbearbeiterkonferenz angesagt. Dazu musste sie vorbereitet sein.
Als Erstes ging sie zum Wissenschaftlichen Dienst. Dort gab sie die Visitenkarte ab, die Judith Stämpfli in den Fingern gehabt hatte. Johanna war gespannt, ob sich darauf weitere Fingerabdrücke finden ließen. Später las sie den Bericht der Spurensicherung über die Untersuchung in Hüglis Haus. Auf den ersten Blick fand sich darin nichts, was ihr gefährlich werden konnte. Zu guter Letzt widmete sie sich Schürchs Bericht über den ergebnislosen Ausflug nach Burgdorf. Der Text war in Ordnung. Sie fügte trotzdem einige Korrekturen ein. Nur um herauszufinden, ob Sebastian sie akzeptieren würde. Anschließend schrieb sie den Rapport über ihr Gespräch mit Judith Stämpfli. Letztlich hatte diese nichts Ungesetzliches getan. Vermutlich würde sie nicht einmal für eine Befragung vorgeladen.
Um zwölf traf Johanna Köbi. In einem Biergarten in der Nähe der Langstrasse. Für einen gewöhnlichen Dienstagmittag ging es dort hoch her. Handwerker machten Bierpause mit Bratwurst und Brot. Sexarbeiterinnen Männerpause mit Wasser und Lippenstift.
Johanna holte sich Cervelat und Cola, Köbi eine Kalbsbratwurst. Er tunkte sie in den Mostrich. Die Bartstoppeln um seinen Mund verfärbten sich. Kauend und schmatzend bestellte er ein Bier.
Danach wandte er sich seiner Kollegin zu. »Du fährst in die Ferien?«
Johanna nahm einen Schluck eiskalte Cola. »Hat das Charlie gesagt?«
Er nickte. »Er hat mir zusätzliche Schichten abgeknöpft.«
Sie seufzte. »Tut mir leid. Ich hätte mir denken können, dass er nicht selbst einspringt.«
Köbi schüttelte den Kopf. »Kein Problem. Ferien sind nicht mein Ding.« Unter den Senfschichten war kaum noch Fleisch zu erkennen.
»Jeder Mensch muss sich erholen, Köbi.«
Johanna bevorzugte den Cervelat ohne Zutaten. Das kam ihrem Kollegen sehr zupass. Er schnappte sich ihr Plastikschälchen.
»Ach, was soll ich wegfahren, Jo. Mir ist es wohl in meinem Garten.« Er leerte sein Glas. »Schau doch, was die anderen Böcke in meinem Alter machen! Soll ich auch nach Thailand fliegen und Kinder ficken?« Energisch schüttelte er den Kopf. »Nein, Jo. Arbeiten und gärtnern ist vollkommen in Ordnung für einen alten Schafseckel wie mich. Außerdem kann ich die Bewässerungsanlage nicht unbeaufsichtigt lassen.«
Glucksend winkte er der Bedienung. Sie war groß und ungefähr in Köbis Alter. Ihr Haar war schütter. Zwischen Falten und Fettpolstern waren Andeutungen vergangener Schönheit zu erkennen.
»Fahr doch mit deiner Mutter irgendwohin! Sicher würde sie sich freuen.« Johanna brach ein Stück Brot ab.
Geistesabwesend blickte Köbi in die Tiefen seines Glases. »Womöglich hast du recht«, brummte er schließlich. »Ein Wochenende im Schwarzwald vielleicht.«
»Hier, Schätzli.« Die Serviererin stellte ihm eine neue Stange hin. »Die geht aufs Haus. Mit den besten Grüßen an Lulu!« Augenzwinkernd wandte sie sich durstigen Männern in staubigen Kleidern zu.
Johanna grinste. »Wie es aussieht, bist du der neue König der Langstrasse, Köbi. Hüglis Nachfolger.«
Er hob das Glas in die Höhe. »Saubere Arbeit, Jo! Seit zwanzig Jahren renne ich dem Sauhund hinterher. Endlich ist er fällig.«
Nachdenklich biss Johanna in ihre Wurst.
An einem der Nachbartische gesellten sich zwei Krawattierte zu einem Thaigirl. Dessen Pause war vorbei.
»Ich weiß nicht, Köbi. Mir reicht das nicht. Etwas
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