Die Stunde der toten Augen
verteidigten, sich zurückzogen, waren Annas Ohren halb taub von der Schießerei. Sie zitterte, denn sie hatte es nicht im Keller ausgehalten, und nun hörte sie das Gerassel der Panzerketten, und durch den Garten sah sie, wie in der Ferne die letzten Soldaten hinter den Bodenwellen verschwanden. Nur auf der Straße wurde noch geschossen. Ein paar der Soldaten konnten nicht zurück und verschossen ihre letzten Patronen.
Die Russen waren bereits im Dorf, und sie riefen sich mit rauhen, kehligen Stimmen Befehle zu. Anna nahm das alles wahr, als sähe sie einem Film zu. Sie stand, in ihr Tuch gehüllt, an das Haus gelehnt und wußte nicht, was nun kommen würde.
Auf der Straße platzten schnell hintereinander ein paar Handgranaten. Eine heisere Stimme schrie laut: „Dawai... Dawai!" Sie hörte das Wort zum erstenmal, und sie wußte nicht, was es hieß. Aber es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, als sie es so hinter dem Bretterzaun hörte, der das Gehöft zur Straße abschloß. Dann prasselten Kugeln durch das Holz, und Anna duckte sich. Sie stopfte sich den Zipfel des Tuches in den Mund, um nicht aufzuschreien. Draußen wurde gekämpft, das begriff sie. Also mußten doch noch Soldaten im Dorf sein, die auf die Russen schossen.
Als die erste Handgranate auf dem Hof detonierte, warf sich die Frau flach auf die Steinfliesen des Hausflurs. Sie hörte das Poltern vom Tor her und vernahm auch den Fall, aber sie sah den Soldaten erst nach einiger Zeit, als sie den Kopf hob. Er lag im Hof und blutete aus der Schulter. Er bewegte sich nur sehr matt, und sein Stahlhelm scharrte dabei über den Boden. Die Maschinenpistole war ihm aus der Hand gefallen, als er über den Zaun setzte. Sie war im Hof aufgeschlagen, und der Kolben war abgebrochen.
Mit einem Male wurden die Geräusche schwächer. Die Schießerei verzog sich weiter auf das Dorf zu. Ein paarmal rasselten Panzer vorbei, dann war es still um das Gehöft. Da raffte sich Anna auf und lief quer über den Hof zu dem Russen, der ihr mit verbissenem Gesicht entgegensah und sich aufzurichten versuchte.
Sie prallte zurück, als er sie auf deutsch anschrie: „Weg da!" Aber sie sah auch, daß er bleich im Gesicht war und eine Menge Blut verloren hatte. Sie merkte, daß seine Kräfte nachließen und das Blitzen in seinen Augen schwächer wurde.
„Sprechen Sie denn Deutsch?" fragte sie ratlos. . „Weg da!"
„Sie sind verwundet..."
„Rühren Sie mich nicht an", warnte der Mann sie drohend, „ich habe noch genug Kraft, um zehn solche Faschisten wie Sie zu töten!"
Dann sank er zurück. Er war bewußtlos geworden.
Wie sie ihn ins Haus geschleppt hatte, konnte sie nachher nicht mehr genau sagen. Sein Blut beschmutzte ihr Kleid. Aber sie hatte nur den einen Gedanken, daß er nicht sterben durfte. Sie tat es, ohne zu überlegen, und sie hätte genau das gleiche getan, wenn dieser Verwundete nicht ein Russe, sondern ein Deutscher gewesen wäre. Sie zog ihn aus und verband seine Wunde an der Schulter. Es war ein großes, tiefes Loch; das Geschoß mußte ihn in dem Augenblick getroffen haben, als er sich auf den Holzzaun schwang. Es gelang ihr, das Blut zu stillen und den Soldaten für kurze Zeit ins Bewußtsein zurückzurufen. Aber er war zu sehr ausgeblutet, und von seinen Lippen kam nur ein undeutliches Lallen.
Als eine Patrouille später die Häuser durchsuchte und auch zu Anna kam, führte sie die Soldaten zu dem Verwundeten. Sie stellten Anna mißtrauisch mit dem Gesicht zur Wand auf und durchsuchten das Haus. Einer lief ins Dorf und holte einen Offizier, der ein paar Worte Deutsch verstand. Er verhörte Anna und fragte sie ein dutzendmal immer wieder dasselbe. Wie sie dazu gekommen sei, ihn zu verbinden und im Haus unterzubringen. Warum sie nicht geflüchtet sei. Wer ihr Mann wäre.
Der Offizier war ein Jude, und er sagte ihr das auch. Er beobachtete ihr Gesicht scharf.
„Ich habe einmal bei einem Juden gearbeitet", sagte Anna leise. Sie stand noch immer an der Wand, aber nun mit dem Gesicht zur Stube, und sie sah den Offizier an. Zugleich sah sie den anderen auf dem Bett liegen und unruhig atmen, bei geschlossenen Augen.
„Bis sie ihm alles zerschlugen und ihn abholten, habe ich bei ihm gearbeitet", sagte sie, „bis zur letzten Minute war ich bei ihm. Er war der einzige Mensch, der gut zu mir gewesen ist."
Der Offizier biß sich auf die Lippen. Er sagte leise, wie um den Verwundeten nicht zu stören: „Bis zur letzten Minute. Und dann hast du seinen
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