Die Stunde der toten Augen
Sprechzimmereinrichtung. Unter den künstlichen Gebissen, die sie grölend durch die Fensterscheiben warfen, war auch das, welches David erst vor ein paar Tagen für den Rechtsanwalt von nebenan angefertigt hatte. Aber er schien es ohnehin nicht abholen zu wollen, denn er stand, mit einer abgebrochenen Zaunlatte bewaffnet, unweit der Haustür und brüllte im Chor der anderen: „Haut das Schwein, das jiddische! Haut ihn!"
Zuerst waren es einige von den Uniformierten, die ihn schlugen. Sie trugen hellbraune Hemden und Stiefelhosen von der gleichen Farbe, und auf dem Kopf hatten sie hohe Mützen, die entfernt an Starkästen erinnerten. Sie ohrfeigten David, der sich vergeblich zu schützen versuchte und der fortwährend beteuerte, nichts Unrechtes getan zu haben. Er blutete leicht an der Lippe, aber dann brüllte einer: „SA - 'ran!", und da schnallten sie die Schulterriemen ab und prügelten mit dem Leder. Sie zerschlugen alles, was ihnen im Wege stand. Die Möbel und die Nippesfiguren, die Ampullen mit dem schmerzbetäubenden Mittel und die Wachsabdrücke fremder Gebisse. Sie zerschlugen Schränke und Tische und bearbeiteten David selbst so lange mit ihren Lederriemen, bis er am Boden lag, ohne sich zu rühren. Sie rissen den Kindern büschelweise die Haare aus und zerrten dem Mädchen, das ihr letztes Schuljahr absolvierte, die Kleider vom Körper. Sie jagten es nackt in den Garten und von da auf die Straße, bis dort ein Schutzmann eingriff. Er verabreichte dem Mädchen ein paar kräftige Ohrfeigen und stieß es in einen Lastwagen, der schon bereitstand und in dem das Mädchen ein Dutzend andere jüdische Bürger fand, die ihm halfen, seine Blöße zu bedecken.
Zuerst beachtete keiner der Tobenden Anna. Aber dann rief plötzlich der Rechtsanwalt, der inzwischen das Haus betreten hatte: „Da... da steht sie und flennt, die Judenhure!"
Er warf einen Topf nach ihr, der an die Wand polterte, und Anna, der die Angst plötzlich Mut verlieh, schrie ihn an: „Seien Sie still! Sie sind ein Lügner!"
Doch die Leute um sie herum grölten nur. Zuerst hatten sie nicht vermutet, daß dieses schwarzhaarige, schöne Mädchen in das Haus gehörte. Aber nun wandte sich ihre Raserei gegen Anna, und die mit den Starkästen auf den Köpfen schwangen wieder die Schulterriemen. Als es ihr endlich gelungen war, aus dem Hause auszubrechen und durch den Garten in eine stillere Straße zu gelangen, blutete sie am ganzen Körper. Sie hielt über der Brust ihr Kleid zusammen, und ihr Haar flatterte aufgelöst, blutig, hinter ihr her, als sie wie gehetzt davonlief. Man verfolgte sie, und die Meute schrie im Chor „Judenhure! Judensau!", so daß die Leute, an denen sie vorbeilief, aufmerksam wurden und mit Steinen nach ihr warfen.
Es war, als habe ein Taumel die Menschen gepackt und rasend gemacht. Die Schreie hallten durch die ganze Stadt, und die Scheiben prasselten. Als Anna die letzten Häuser weit hinter sich gelassen hatte und ihr niemand mehr folgte, sank sie zu Boden und weinte, bis Ihr keine Tränen mehr kamen. Blutig und zerschlagen, wie sie war, kroch sie weiter. Irgendwo, abseits der Straße, wusch sie sich notdürftig an einem Bach. Sie wanderte Tag und Nacht, ohne zu essen und zu schlafen. Sie umging die Dörfer und rupfte Sauerklee aus, wenn der Hunger ihr in den Gedärmen wühlte. Der Klee stillte den größten Hunger, aber er konnte Annas Angst nicht vertreiben.
Bei Nacht schlich sie in ihr Heimatdorf, hohlwangig und wund am ganzen Körper. Mit einer Seele, die einem todwunden Tier glich. Die Tante nahm sie auf. Und ein paar Monate später verkuppelte sie das Mädchen an den Mann, den sie im Dorfe seit einiger Zeit nur den „Erbhofbauern" nannten. Dann legte sich die Tante ins Bett und starb noch vor der Hochzeit an einem Blutsturz im Gehirn.
Der Mann war groß und blond, und ihm gehörte der große Hof in Haselgarten, ein wenig abseits vom Dorf. Während er um Anna warb, war er immer nüchtern und gut. Er hörte sich an, was ihm Anna von Gumbinnen erzählte, und sagte nichts dazu. Sie kannte ihn nur oberflächlich, aber die Tante hatte ihr eingeredet, daß sie froh sein konnte, ihn zu bekommen nach allem, was in Gumbinnen mit ihr passiert sei.
Er nahm das Geld von ihr, das sie aus dem Verkauf des elterlichen Hofes behalten hatte, und kaufte noch Land zu seinem Hof. Als er sie heiratete, feierte das halbe Dorf, und Anna weinte zum erstenmal heimlich in ihrer Stube, weil draußen am Gasttisch welche saßen, die
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