Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
Schmuck genommen und sein Geld und bist gegangen. Wir wissen alles."
    „Nein", sagte sie. „Ihr wißt nicht alles."
    Aber er herrschte sie böse an: „Still! Ich habe noch keinen Deutschen getroffen, der für das geradestehen will, was die Deutschen verbrochen haben!"
    Der Verletzte murmelte ein paar undeutliche russische Worte.
    „Geben Sie ihm Wasser!" befahl der Offizier.
    Er ließ einen Posten bei dem Verwundeten, denn sie konnten ihn nicht transportieren, und es waren noch keine Sanitätsautos im Dorf. Der Posten hockte sich neben das Bett und hielt die Maschinenpistole schußbereit in den Händen. Er beobachtete Anna, und wenn sie dem fiebernden Verwundeten Wasser gab, mußte sie zuerst selbst davon trinken.
    Die Flieger kamen, zwei Stunden bevor die Deutschen das Dorf wieder angriffen. Sie heulten über die Felder und schossen auf alles, was sich bewegte. In der Ferne rumpelten ein paar Panzermotoren. Das waren deutsche.
    Anna kam nie dahinter, ob sie den Verletzten einfach vergessen hatten oder ob es keine Möglichkeit gab, ihn fortzuschaffen. Der Posten machte eine drohende Gebärde und lief ins Dorf. Sie vermutete, daß er ein Fahrzeug holen wollte, das den Verletzten wegbringen sollte. Aber er kam nicht weit, denn die Flieger kreisten über der Straße, und auf halbem Wege zwischen Annas Gehöft und dem Dorf stieß eine der gescheckten Maschinen herab, und der Posten blieb am Straßenrand liegen. Zu dieser Zeit heulten schon die ersten Panzergranaten über das Gehöft hinweg und schlugen im Dorf ein. Ein paar Stunden lang tobte das Gefecht, aber die deutsche Einheit war stärker als die sowjetische, die das Dorf erobert hatte, und die nächste Patrouille, die in Annas Gehöft kam, war eine deutsche. Anna ging ihnen auf dem Hof entgegen. Sie glotzten sie an wie ein Gespenst, und dann fragten sie nach Russen. Anna schüttelte den Kopf. Sie wage es nicht, dem Führer der Patrouille in die Augen zu blicken, aber der faßte das wesentlich anders auf und verzichtete darauf, das Haus zu durchsuchen. Er sagte nur mitfühlend zu Anna: „Arme Frau, Sie haben bestimmt viel gelitten. Wenn Sie Hilfe brauchen, kommen Sie ins Dorf. Wir werden sehen, was wir tun können."
    Sie hatte nicht darauf geachtet, daß sie die Tür zu der Stube, in der der Verletzte lag, offengelassen hatte. Als die Patrouille verschwunden war und sie zu dem Russen zurückging, lag er mit offenen Augen da und fragte leise: „Warum haben Sie das getan? Wissen Sie, was das für Sie bedeutet?"
    „Wollen Sie Wasser?" fragte sie ihn. „Ich habe Früchte im Keller und Kirschsaft. Wollen Sie?"
    „Man wird Sie erschießen."
    „Schmerzt Ihre Wunde noch stark?" fragte sie.
    „Die Leute im Dorf werden Sie anzeigen ..."
    „Es ist niemand außer mir in diesem Dorf", sagte sie eigensinnig. „Legen Sie sich hin, Sie dürfen sich nicht so anstrengen."
    Er betrachtete sie einen Augenblick lang, dann verlangte er: „Geben Sie mir meine Uniform. Wo haben Sie meine Uniform gelassen?"
    Sie deutete auf den Schrank. „Es braucht nicht jeder gleich zu sehen, wer hier liegt."
    Sie brachte ihm seine Kleidung, und er zog aus einer Tasche die Pistole und steckte sie unter das Kopfkissen.
    „Wann werden Ihre Leute zurückkommen?" erkundigte sie sich nach einer Weile. „Wie lange wird das dauern?"
    „Ich weiß es nicht."
    „Sie sprechen so gut Deutsch. Man könnte Sie für einen Deutschen halten."
    „Ich habe einmal diese Sprache gelehrt", sagte er langsam, „als noch kein Krieg war. Ich habe sie jungen, wißbegierigen Menschen bei uns zu Hause beigebracht, damit sie Marx und Engels im Original lesen konnten."
    Sie sah ihn an. Sie sah, daß auf seiner Stirn Schweißtropfen standen.
    „Wer sind Marx und Engels?" fragte sie.
    Er antwortete nach einem langen Schweigen. „Es waren Deutsche", sagte er, „vorhin habe ich geglaubt. Sie würden wenigstens ihre Namen kennen."
    „Nein", sagte sie kopfschüttelnd, „ich kenne sie nicht. Wollen Sie nicht etwas essen? Sie müssen zu Kräften kommen."
    „Ich habe in meiner Tasche eine Handvoll Sonnenblumenkerne", sagte er, „die können Sie mir geben. Wir Russen essen gern Sonnenblumenkerne."
    Sie gab sie ihm, aber er war zu schwach, die Kerne zu knacken. Sie fielen ihm aus der Hand, und als sie es sah, brach sie die Schalen mit den Fingern auf und steckte ihm die Kerne zwischen die Lippen.
    Es war dunkel, und es gab keinen Strom. Aber sie hätte ohnehin kein Licht gemacht. Sie drängte ihm ein paar Früchte auf

Weitere Kostenlose Bücher