Die Stunde der toten Augen
und Kirschsaft, mit Wasser verdünnt. Einmal fragte sie ihn: „Muß ich jetzt auch noch von dem Wasser trinken, bevor ich es Ihnen gebe?"
Er antwortete nicht. Er sah sie an, obwohl er in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht mehr genau erkennen konnte.
Draußen war es stiller geworden. In der Ferne war der Donner von Geschützen zu hören. Das konnten die Panzer sein. Ab und zu leuchtete es am Himmel auf, wenn es eine größere Explosion gab. Es war still in der Stube.
„Wo werden Sie schlafen?" fragte er plötzlich. „Das hier ist Ihr Ehebett..."
ja, das ist mein Ehebett", sagte sie, „und wenn ich müde werde, dann werde ich mich ein bißchen dort auf die andere Seite legen, neben Sie, damit ich höre, wenn Sie irgend etwas brauchen."
„Damals, an jenem Abend", sagte Anna leise zu Bindig, „da wollte ich es dir sagen. Aber dann habe ich es doch nicht gesagt. Ich weiß nicht warum. Ich wußte, daß du begreifen würdest, warum ich ihn aufnahm und nicht verriet. Aber ich habe es trotzdem nicht gesagt..."
Sie hörten ihn oben in seiner Kammer hin und her gehen. Bindig richtete sich ein wenig auf. Er war schwach. Das Fieber war zurückgegangen, und seine Glieder hatten aufgehört, im Schüttelfrost zu beben. Er hatte Hunger, aber er sagte nichts, denn er wollte nicht, daß sie aufstand und ihm etwas zu essen holte. Er wollte sie jede Sekunde neben sich haben.
Zado hatte ihm Zigaretten und Schokolade gebracht. Er versuchte, eine Zigarette anzubrennen, und es gelang ihm auch. Das aufflackernde Streichholz beleuchtete sekundenlang sein Gesicht. Es war blaß, und um die Augen herum lagen tiefe Schatten. Aber das Hölzchen brannte nur wenige Sekunden. Als es wieder dunkel war, sagte Anna: „Du solltest schlafen. Schlafen ist gut. So lange schlafen, bis alles vorbei ist. Das Fieber und die Schwäche und der ganze Krieg überhaupt .. ."
Sie hatten ihn nicht ins Lazarett geschickt. Wer in diesen Tagen ins Lazarett kam, der kehrte nicht mehr zu seiner alten Einheit zurück. War er geheilt, dann steckte man ihn irgendwohin, wo gerade ein paar Leute fehlten. Es gab keine Ordnung mehr, nur noch die Hast. Timm hatte eine einfache Rechnung aufgestellt. Wenn Bindig ins Lazarett kam, war er für die Kompanie verloren. Hatte er hier in Haselgarten ein paar Tage Ruhe, dann war es immerhin möglich, daß er sich ohne Zutun eines Arztes erholte, wenn nicht, dann konnte man ihn immer noch ins Lazarett schaffen, aber dann war der Verlust für die Kompanie nicht größer, als wenn man ihn gleich dorthin gebracht hätte.
Bindig erholte sich schnell. Sein Körper war auf Härte trainiert. Kaum waren drei Tage vergangen, da war Bindig über den Berg. Er rauchte die Zigarette mit Genuß, und da wußte er, daß er es geschafft hatte. Aber er wußte nicht, was nun werden sollte. Die Gedanken zermarterten sein Gehirn.
Er konnte niemandem sagen, was geschehen war, nicht einmal Zado. Er hatte nur Anna und sonst nichts mehr.
„Ich hatte Angst", sagte die Frau leise. Sie lag still neben ihm in der Dunkelheit, die nur durch den hellen Schimmer, den der Schnee vor den Fenstern verursachte, etwas von ihrer zähen Schwärze verlor,
„Angst...", wiederholte er gedankenlos.
„Ja. Angst um mich und Angst, daß sie Georgi ausfindig machen würden." „Er heißt Georgi?"
„Georgi Warasin."
Er blies den Zigarettenrauch in die Dunkelheit. Dann wandte er den Kopf und sah sie an. Über ihnen waren noch immer die Schritte des Russen.
„Wenn sie dahintergekommen wären, hätten sie ihn an die Wand gestellt, ihn und dich."
Die Frau bewegte sich ein wenig. Bindig hörte, wie sie mit den Handflächen das Deckbett glattstrich.
„Ich habe es immer gewußt", hörte er sie sagen, „aber ich hätte ihn um nichts in der Welt verraten. Es hat lange gedauert, bis seine Wunde geheilt war. Und ich habe manchmal gezittert, wenn welche von euch kamen. Ich hätte es bei Gott lieber gesehen, wenn es Russen gewesen wären —"
„Warum hast du das eigentlich getan?" fragte er.
„Warum?" Eine Weile war es ganz still. Dann sagte die Frau langsam und bedächtig: „Weil es genug Jammer auf der Welt gibt. Und weil ich kein Soldat bin, sondern eine Frau und es mir um jeden Menschen leid tut, der sterben muß, deshalb."
„Es ist Krieg!" sagte er.
„Georgi hat mir einmal gesagt, diesen Krieg haben nicht die Russen gemacht, sondern die Deutschen. Hitler hat ihn gemacht. Und solche Jungen wie dich haben sie so lange belogen, bis sie nur noch den einen Ehrgeiz
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