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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Oder ich? Ich habe mich schon als Kind nicht gern für Dinge schlagen lassen, die ich nicht getan hatte. Und ich habe weiß Gott nicht die Schuld, daß es diese mörderische Zeit gibt. Sieh mich an! Wie alt bin ich? Ich brauche noch die Genehmigung meiner Eltern, wenn ich heiraten will.
    Aber ich habe schon ein paar Dutzend Menschen getötet. Bin ich schuld daran? Bin ich denn ein solcher Weiser, daß ich als Kind etwa schon alles besser hätte wissen können als die, von denen ich erzogen wurde? Ich habe diese Zeit nicht gemacht und nicht den Krieg, und ich habe nicht die Menschen aufgeteilt in Christen und Heiden und Deutsche und Russen und Nationalsozialisten und Kommunisten! Ich habe noch das Abc gelernt, als das alles, was jetzt geschieht, beschlossen wurde. Ich habe die Alten in den braunen Fräcken herumlaufen sehen, und sie waren für mich der Inbegriff aller Lebensweisheit. Ich habe mit dem Abc gelernt, wer gut und wer schlecht ist. Und wie man die Hand hebt, um den Führer zu grüßen. Sie haben mir alles erklärt, bis ich es lückenlos begriffen hatte. Sie haben mir vorgesagt, was ich nachsprechen mußte, und sie haben mir die Gedichte in die Hand gedrückt und am ersten Mai die Hakenkreuzfahne. Wo waren die Weisen dieser Zeit?
    Ich habe sie nicht gesucht, denn ich habe nicht gewußt, daß es sie gibt. Und sie sind nicht zu mir gekommen, bis ich reif fürs Militär war. Dort hat man einen Helden aus mir gemacht, ohne mich zu fragen, ob ich einer werden wollte oder nicht. Sie haben keinen von uns gefragt. Sie haben uns hierhergeschickt, ausgebildet und bewaffnet. Aber wer ist daran schuld? Ich? Oder du? Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Die meisten von uns werden es nie erfahren, und wenn sie es erfahren, wird es zu spät sein, und deshalb werden sie nichts ändern können. So wie ich nichts ändern kann. Oder weißt du einen Ausweg?"
    Sie schüttelte langsam den Kopf. Über ihnen war noch immer der Schritt des Russen.
    „Frag mich nicht", bat sie leise, „ich weiß keine Antwort. Ich kann dir auf nichts von allem eine Antwort geben ..."
    An der Front wurde geschossen. Es mußten schwere Kaliber sein, denn das Gedröhn der Einschläge ließ die notdürftig zusammengeflickten Scheiben in den Fenstern erzittern.
    „Schlaf", sagte die Frau leise zu Bindig, „schlaf, wenn du kannst. Wir sind die, denen dieser Krieg und diese ganze verfluchte Zeit ihr Glück genommen hat. Wir und der da oben auch. Jedem ist es auf eine andere Weise genommen worden. Er hat es mir gesagt. Ihm haben wir es genommen. Ohne daß wir selbst es wollten. Wir haben anderen Unglück gebracht. Aber wir sind selber Unglückliche ..."
    Sie lagen still. Über ihnen waren die Schritte und draußen das Gewummer der Artillerie. Und die weiße Nacht mit ihren blauen Schatten, ohne Sterne. Die Schreie der Verletzten waren in diesem Zimmer nicht zu hören und die verschwitzten Gesichter der Kanoniere nicht zu sehen. Das Geratter der Maschinengewehre drang nicht bis hierher, und das Blut, das den Schnee befleckte, war weit entfernt. Und doch war alles in diesem Zimmer mit den zitternden Scherben in den Fensterrahmen und den Schritten des Russen, und der Frau, die lautlos an der Schulter des erschöpften Soldaten weinte.
    Der blutige Schnee
    Als Werner Zadorowski blinzelnd die Augen öffnete, sah er, daß sich jemand an Bindigs Gepäck zu schaffen machte. Es war noch nicht hell, und er konnte die Gestalt, die da herumhantierte, nur undeutlich erkennen. Er richtete sich langsam auf und zog die Kaie an. Dabei merkte er, daß Paniczek neben ihm noch rasselnd schnarchte. Er hatte sich erst vor ein paar Tagen hier einquartiert. Auch der Obergefreite in der Ecke schlief noch. Er hatte am Abend eine Flasche Genever, zur Hälfte gemischt mit Rotwein, den sie zur Verpflegung erhalten hatten, ausgetrunken.
    Zado setzte sich mit einem Ruck auf und sagte halblaut: „He, was suchst du da?"
    In diesem Augenblick erkannte er Bindig. Er erhob sich schnell und reckte ein paarmal die verschlafenen Glieder.
    „Nanu, Kleiner!" sagte er dann. Das ist aber eine Überraschung! Ich denke, du kannst noch keinen Finger bewegen.
    Bindig begrüßte ihn und setzte sich auf den Strohsack. Er sah noch blaß aus im Licht der Stearinkerze, die Zado anzündete, und sein Gesicht war ziemlich schmal. Aber Zado verspürte ein Gefühl der Erleichterung darüber, daß Bindig überhaupt wieder da war. „Bleibst du", fragte er, „oder bist du bloß gekommen, um was zu

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