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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Kilometer westlich hatte die Rote Armee neue Stellungen bezogen. Die Panzer sicherten dort noch, aber man brauchte sie kaum. Es gab keine nennenswerte Konzentration deutscher Truppen auf der Gegenseite, die einen überraschenden Angriff hätten wagen können. Und man hatte das Vordringen nicht gestoppt, weil die Abwehr zu stark war, sondern weil man das befohlene Ziel erreicht hatte. Die Rotarmisten hatten sich eingegraben und ihre Stellungen befestigt. Es war schwer gewesen, in dem gefrorenen Boden ein Schützenloch auszuheben, aber sie hatten es tun können, ohne unter Feuer zu liegen, denn die Panzer waren ein Stück weitergefahren und hatten den Stellungsbau abgeschirmt. Nun war Ruhe eingetreten.
    Der untersetzte Mann stieß zum zweitenmal mit dem Kopf an das Eisengestänge des Verdecks. Er gab einen Fluch von sich, über den der Kraftfahrer beifällig mit dem Kopf nickte. Dann rieb er sich ächzend die schmerzende Stelle und sagte: „Himmel, was für ein Krieg! Wenn das bis Berlin so weitergeht, werde ich mit verbundenem Kopf dort ankommen. Wie machen Sie das, Warasin, daß Sie nicht anstoßen?"
    Der Angeredete lächelte und sagte: „Sie hätten den Stahlhelm aufsetzen sollen, Genosse Politleiter."
    „Stahlhelm!" fauchte der zurück. „Ich werde nicht im tiefsten Hinterland einen Stahlhelm aufsetzen! Was sollten die Soldaten von mir denken?"
    Der Fahrer fragte: „Ist es noch weit?"
    „Nein", gab Warasin zurück, „noch ein paar hundert Meter. Das Gehöft, das Sie da vorn sehen."
    „Die Frau ist die einzige, die von den Deutschen hiergeblieben ist?" fragte der Politleiter.
    Warasin nickte.
    „Hm ...", machte der andere, „es wird guttun, diese Frau zu sehen und sich dabei vorzustellen, daß sie eine Deutsche ist. Kann man ihr auf irgendeine Weise helfen?"
    „Ich glaube kaum", sagte Warasin. „Es ist eine sehr tatkräftige Frau. Sie wird sich zurechtfinden. Man sollte die Truppen im Dorf trotzdem auf sie aufmerksam machen. Außerdem wäre es gut, wenn man ihr ein paar Lebensmittel geben könnte."
    Der Politleiter faßte vorsichtig an die schmerzende Stelle am Kopf. „So dumm", brummte er, „morgen ist das eine Beule. Es ist eine Schande! Lebensmittel sind so weit vorn nicht gerade üppig, mein Lieber. Aber wir werden etwas tun. Sie können das selbst tun. Sie werden öfter Gelegenheit haben, sie zu besuchen."
    Warasin schwieg einen Augenblick. Er sah am Kopf des Fahrers vorbei auf die Straße. Dann sagte er: „Ich habe gebeten, zu meiner Einheit zurückkehren zu dürfen. Sie liegt in der neuen Stellung, weiter westwärts."
    Der andere lächelte gemütlich. Er versuchte, Warasin freundschaftlich die Hand auf die Schulter zu legen, aber er zog sie schnell zurück, denn der Wagen rutschte in ein Loch, und er mußte sich festhalten. Als der Wagen wieder ruhiger fuhr, sagte er: „Man behält Sie aus gutem Grund hier im Dorf. Der Stab wird Sie brauchen. Nicht jeder hat so lange hinter den deutschen Linien gelebt. Und diese Stellung da vorn ... Reden wir nicht davon, sie wird nicht alt werden.
    Wir haben jetzt eine sehr gute Ausgangsposition. An dieser Stelle hier haben wir eine kleine Beule in die Front getrieben. So eine Beule, wie ich sie morgen früh an meinem Kopf haben werde. Aber diese Beule in der Front ist entscheidend. Ich wette, die Deutschen haben das noch gar nicht begriffen ..."
    Warasin blickte unbewegt geradeaus. Dabei sagte er leise: „Ich habe immer an der Front gekämpft. Warum soll ich das nun nicht mehr tun können? Es war meine Hoffnung, es hat mich aufrechterhalten. Oder meinen Sie, es wäre mir leichtgefallen, diese lange Zeit den Taubstummen zu spielen und nichts zu tun?"
    „Warten Sie", war die Antwort. „Sie werden früh genug wieder eine Kompanie führen. Es ist noch Zeit. Wenn wir erst marschieren, dann werden Sie Ihren Wunsch erfüllt bekommen. Im Augenblick braucht man Sie hier. Gedulden Sie sich."
    Während das Fahrzeug langsam weiterschaukelte, erkundigte sich der Politleiter leise, so daß der Fahrer es nicht verstehen konnte: „Ich habe nur
    eine Frage noch an Sie, Genosse Warasin. Es ist eine Angelegenheit, über die man nicht so fragen kann wie über andere Dinge. Man muß dabei ..." Er griff sich ans Kinn und massierte dort einige Zeit die blaurasierte Haut.
    Warasin blickte ihn erwartungsvoll an. „Sprechen Sie!" forderte er ihn auf.
    Der andere zeigte ein ernstes Gesicht. Er sah angestrengt auf die Knöpfe seines Mantels und fragte dann: „Die... diese Frau,

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