Die Stunde der toten Augen
Zigarette und fragte gleichgültig: „Ist bekannt, ob jemand evakuiert wurde?"
„Evakuiert?" hörte Bindig die Stimme sagen. „Das Dorf war geräumt. Dort lag bis zu dem Angriff eine Kompanie Luftwaffe, die gegen Mittag herausgezogen wurde. Dafür kamen andere Einheiten hin. Panzerjäger und Infanterie."
Der Telefonist sah Bindig an. Bindig überlegte schnell, aber er stellte keine Frage mehr. Der Telefonist sagte gleichgültig in die Sprechmuschel: „Danke, Siebenschläfer. Das war alles."
Dann streifte er die Kopfhörer ab und sagte zu Bindig: „Mach dir keine Sorgen. Wenn deine Frau wirklich noch in dem Dorf war, als sie die Luftwaffe abgezogen haben, dann wird sie mitgefahren sein. Du mußt eben warten, bis sie sich meldet. Schick sie nach Bayern. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die in Bayern ..."
Bindig erhob sich und nahm seinen Helm auf. Er warf dem Telefonisten ein Päckchen Zigaretten auf den Tisch und ging zur Tür. Der Gefreite verzog anerkennend das Gesicht und rief ihm nach: „Wenn du vielleicht später noch mal versuchen willst..."
„Danke", sagte Bindig an der Tür, „ich werde keine Gelegenheit mehr dazu haben. Aber wenn du erfahren solltest, ob sie evakuiert wurde, dann sag es mir, wenn ich zurückkomme ..."
Der Telefonist nickte. Er steckte die Zigaretten ein und rief über die Schulter zurück: „Meld dich bei mir, wenn du zurück bist!"
Draußen begegnete Bindig auf dem Weg zu der Baracke, in der sie lagen, Timm.
„Was ist los?" fragte der Unteroffizier. „Du schleichst herum wie der erste Mensch."
„Nichts", antwortete Bindig, „es ist nichts zu erfahren." Timm legte den Kopf schief und kniff ein Auge zu. Dabei sagte er: „Es muß verdammt schnell gegangen sein. Möchte wissen, was aus unserem Haufen geworden ist." „Gegen Mittag hat man die Kompanie abgezogen." „Abgezogen?" Timm zog die Augenbrauen hoch. „Du sagst abgezogen?"
Bindig nickte. „Mehr war nicht zu erfahren." „Hoffentlich haben sie wenigstens unser Gepäck mitgenommen", sagte Timm. „Hau dich noch eine Stunde hin. Nachher werdet ihr eingekleidet."
Durch den aufgewühlten Schnee der Landstraße, die Hasel-garten durchquerte, schob sich ein kleiner Personenwagen. Es war ein Jeep, aber er war mit einem Aufbau aus Holzgestänge und Zeltplanen versehen. Die Soldaten, die darin saßen, trugen die olivbraunen Uniformen und die Pelzmützen mit dem fünfzackigen roten Stern. Es waren drei Männer: der Fahrer, der fluchend den Granattrichtern auswich, ununterbrochen Sonnenblumenkerne knackend und die Schalen seitlich aus dem Wagenfenster spuckend, und zwei Offiziere, die hinter ihm saßen, sich an den Griffen festhielten, weil das Fahrzeug schaukelte und schwankte. Der eine von beiden hatte ein schmales, helles Gesicht mit hellen Augen. Die Augenbrauen waren blond. Der andere, ein behäbigerer, untersetzter Typ mit kleinen, runden Augen und sehr dunkler, lederfarbener Haut, schüttelte ärgerlich den Kopf. Er sah seinen Begleiter von der Seite an und erkundigte sich nicht besonders interessiert: „Wie fühlen Sie sich, Genosse, nach so langer Zeit wieder in der alten Familie?"
Der Angeredete lächelte. Es gelang ihm trotz der Kapriolen, die der Jeep vollführte. Dann erwiderte er: „Gut. Ich habe lange auf diesen Augenblick warten müssen."
Der andere verzog das Gesicht, weil er schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Verstrebung des Verdecks gestoßen war. Er griff mit der freien Hand an die Schläfe und brummte unwillig: „Man geht unverletzt aus einer Menge von Kämpfen hervor, aber ein einziger solcher Straßenflitzer kann einem alle Knochen brechen!"
Der Fahrer, der zuweilen einen Fluch losgelassen hatte, sagte nun vernehmlich, so daß die beiden hinter ihm es trotz des Lärms, den der Motor des leichten Fahrzeuges verursachte, hören konnten: „Der Satan soll sie holen! Demolieren die Straße, daß man jeden Augenblick denkt die Achsen brechen! Ich habe es schon immer gewußt: Diese Panzerleute nehmen keine Rücksicht auf das, was hinter ihnen kommt."
„Auf das, was vor ihnen auftaucht, auch nicht", beruhigte ihn der untersetzte Fahrgast. „Fahr langsamer, wir wollen mit diesem Auto noch bis Berlin kommen I"
Im Dorf hatte sich kaum etwas verändert. Nur die Uniformen der Soldaten waren anders, und neben den vielen Löchern in der Straße gab es neue in den noch stehengebliebenen Wänden der Häuser. Das Gefecht war vorüber. Im Dorf lagen ein paar Versorgungsein- heiten und Stäbe. Wenige
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