Die Stunde der toten Augen
Kreuzung fiel ein vereinzelter Schuß. Bindig konnte sehen, wie hinter dem Wald der Himmel für den Bruchteil einer Sekunde seine Färbung veränderte. Es war, als zuckte ein heller Schein unter den Spitzen der Bäume entlang. Dann war wieder das Geräusch von Ketten und Motorengedröhn. Mit einemmal überlief Bindig ein Schauet. Er spähte durch die Zweige dorthin, wo sich die Straße aus dem verschneiten Geäste der Fichten herauswand. Mechanisch nahm er die Maschinenpistole auf und machte sie schußbereit. Die Panzer rollten wieder, es war zu hören. Bindig vermeinte, sie vor sich zu sehen, wippend und mit auf und nieder tastenden Kanonen, die Luken geschlossen, eine Fahne von hochgewirbeltem Schnee hinter den Ketten. Er sah gleichsam durch die Panzerplatten hindurch in die Gesichter der Soldaten
an den Lenkhebeln. Er sah den Richtkanonier durch die Optik spähen, die schwarze Kappe mit den Polsterwülsten auf dem Kopf. Er sah unter diesen Kappen alle die vielen Gesichter, die er wachsbleich und totenstarr gesehen hatte. Sie schienen zu leben. Und er sah auch das Gesicht der Frau aus dem Lastwagen, die helle Haut mit dem dünnen Blutfaden, und hörte den knirschenden Laut, als Timm ihr die Bluse über der Brust aufriß. Er blickte sich um, als stünden sie jetzt schon alle um ihn herum und hielten die Maschinenpistolen auf ihn gerichtet. Da schlug die Glocke des Telefons an. Einmal, leise. Er wandte sich hastig um, griff nach dem Hörer und rief leise: „Hallo, Paniczek ... Was..."
Es kam eine tiefe, gutturale Stimme durch den Draht. Sie war sehr heiser und aufgeregt, und sie rief etwas. Immer wieder dasselbe. Einmal und noch einmal, dreimal, viermal. Es war nicht Paniczeks Stimme, auch nicht die des Obergefreiten. Bindig ließ den Hörer fallen. Er verschwand in dem lockeren Schnee, und die Klingel schlug erneut an. Die paar Schritte am Draht entlang ... dachte Bindig gehetzt. Da schoß drüben über dem Holzplatz eine steile gelbrote Flammengarbe hoch, und die krachende Explosionswelle fuhr wie ein Windstoß in die Zweige, den Schnee herabfegend. Der Flammenschein blieb, und in den Flammenschein mischten sich die unregelmäßigen Detonationen der Munition, die in den Fahrzeugen gewesen war. Eine Kiste Leuchtspurgeschosse zerplatzte und zauberte sekundenlang ein Feuerwerk aus wirren grünen Linien über die Baumwipfel. Ein Hauch von brennendem Treibstoff, von angekohltem Gummi und Lack wehte herüber.
Es war, als habe die Explosion Bindig geweckt. Er mußte fort von hier. Hinüber und hinter den anderen her. Er packte die Maschinenpistole und raffte den weißen Umhang hoch. Er sprang auf die Straße und rutschte aus, aber er fing sich und begann zu laufen. Doch im gleichen Augenblick schob sich der erste Panzer zögernd aus dem Wald. Es war ein weißgestrichener T34.
Bindig spürte den Schlag am Kopf, dicht über der Stirn, wo das Haar ansetzte, und dann hörte er das Geprassel der Maschinen- gewehrgarbe. Während er torkelnd über die Straße glitt, sah er wie durch einen milchigen Schleier den Panzer anhalten und die Kanone herunterkurbeln. Er war benommen von dem Schlag, und das Blut lief ihm in die Augen. Er hatte die Pelzmütze verloren, vielleicht hatte der Schuß sie fortgerissen. Es waren nur winzige Bruchteile von Sekunden, in denen er dachte: Ist das der Tod? Kommt er jetzt und so? Aus dieser Kanone? Oder ist es schon vorbei, seit dem Schlag gegen die Stirn?
Das Maschinengewehr spie eine neue Salve. Er sah das Mündungsfeuer aufzucken, aber die Geschosse fegten über ihn hinweg in den Schnee. Jetzt kommt die Kanone, dachte er, jetzt wird dort in der Mündung die gelbe Flamme aufleuchten, und dann ist es vorbei. Er bewegte die Augenlider. Das Blut tropfte in den Schnee. Da merkte er, daß er sich bewegen konnte. Er raffte sich mit einer unerhörten Anstrengung auf und sprang auf die Füße. Der Boden schwankte, aber Bindig stand, und dann machte er einen Satz vorwärts und floh in den Waldweg hinein. Er war ein paar Schritte weit gekommen, als aus der Mündung der Kanone die Flamme zuckte und die Granate über die Stelle, an der er gelegen hatte, hinwegfuhr, weiter hinten in den Schnee schlug und explodierte. Der Luftdruck schleuderte ihn gegen einen Stamm, aber er fing sich, verwundert darüber, daß er noch immer lebte, daß er gehen konnte, denken. Er lief ein Stück den Weg entlang. Hier konnte der Panzer ihn nicht mehr sehen. Jeder Schritt verursachte ihm einen bohrenden Schmerz am Kopf. Er
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