Die Stunde der toten Augen
liefen noch. Aber sie liefen im Stand, und die Kanonen schwiegen. Nur die Maschinenpistolen bellten. Bindig fuhr mit dem Ärmel über die Stirn. Der Verband war durchgeblutet, und das Blut lief ihm wieder in die Augen.
Er holte im Laufen das zweite Verbandpäckchen hervor, und dann hockte er sich in den Schnee und wickelte es über das erste. Er hatte keine Schmerzen, wenn er den Mull über der Wunde berührte, und die Benommenheit hatte ein wenig nachgelassen. Die Tabletten wirkten schnell. Er knotete die Binde fest und erhob sich. In diesem Augenblick hörte er weit hinten ein Maschinengewehr tacken. Es waren schnelle Serien von Schüssen. Sie klackerten bösartig durch die Nacht, und Bindig wußte, daß die ausgeschwärmten Rotarmisten die anderen eingeholt hatten. Das war das Ende. Er spuckte den bitteren Nachgeschmack der Pillen aus und lief weiter. Er hatte kein Ziel, es war auch keine Zeit, sich zu orientieren. Er lief nur immer weiter in den Wald, weg von dem Lärm der Schüsse und dem dumpfen Gemurmel der gedrosselten Panzermotoren. Er preßte eine Hand auf den Verband, und mit der anderen holte er die Pistole aus der Tasche. Er hatte die Maschinenpistole auf der Straße verloren, ohne es zu merken. Er besaß nur noch die Pistole und zwei Handgranaten.
Etwa um die Zeit, in der sie sich für den Rückflug bereithalten sollten, sah Bindig auf die Uhr. Er erinnerte sich sofort an die Maschine und sah ein, daß es aussichtslos war, auf sie zu hoffen. Sie würde den See überqueren, und wenn die Landelichter nicht gesetzt waren, würde sie eine oder zwei Schleifen ziehen und zurückfliegen. Sie würde nicht wiederkommen, auch keine andere Maschine. Die Verbindung war zerrissen. Bindig überlegte, daß es kaum einem der Gruppe gelungen sein konnte, zum Landeplatz durchzukommen. Die Gruppe war verloren, das Unternehmen Friedhof war gescheitert. Und die paar Fahrzeuge, die sie gesprengt hatten, würden keine wesentliche Lücke in die Bereitstellungen der Roten Armee reißen.
Er war weit gelaufen. Von der Schießerei war nichts mehr zu hören, der Ort lag mehrere Kilometer weit hinter ihm. Bindig wußte nicht einmal, ob es dort noch Widerstand gab oder ob bereits alles vorbei war. Er war gelaufen, so schnell ihn seine Füße trugen, mit dem bohrenden Schmerz im Schädel und mit der Binde um die Stirn, auf der das Blut inzwischen gefroren war. Seine Nerven hämmerten. Er hatte die Pistole längst wieder gesichert aus Angst, sie durch irgendeine unbeabsichtigte Bewegung abzufeuern. Er fühlte sich schwach und zerschlagen. Ihm war, als müsse er jeden Augenblick zu Boden fallen und liegenbleiben. Aber er wußte, daß es sein Ende bedeutete, wenn er jetzt hinfiele und liegenbliebe. Vielleicht würde er so, wie er war, ein paar Stunden schlafen können. Aber wenn er erwachte, würde er nicht mehr die Kraft aufbringen, sich zu erheben und weiterzumarschieren. Davor hatte er Angst.
Schließlich fragte er sich, wohin er überhaupt marschiere. Er wußte es nicht. Er war geflohen, aber ohne Ziel. An einen Baum gelehnt, rauchte er eine Zigarette. Sie machte ihn hungrig, und er aß ein paar Kekse. Er wurde nicht satt von dem, was er in den Taschen hatte. Die Schokolade war das letzte. Er sparte sie auf, aber er wußte nicht genau wofür. Dann ging er weiter, eine Hand an den Verband am Kopf gepreßt, in der anderen die Pistole. Als es im Osten zu dämmern begann, öffnete sich der Wald, und vor ihm lag eine Straßengabelung. Er hockte sich an den Rand des Waldes und beobachtete die Straße lange. Sie zeigte Spuren von Fahrzeugen, aber gegenwärtig war sie still. An der Gabelung stand ein Wegweiser. In halber Höhe war unter ihn ein blauweißes Schild mit einer russischen Aufschrift genagelt. Vorsichtig näherte sich Bindig der Tafel und entzifferte die Namen. Er prägte sie sich ein und schlich zurück in den Wald. Auf dem Schnee breitete er die Landkarte aus, die er in der Tasche trug. Es dauerte eine Weile, bis er die Stelle gefunden hatte, an der er sich befand. In der beginnenden Morgendämmerung beugte er sich über das auf dem Schnee ausgebreitete Papier und entzifferte die Namen von Ortschaften, Flüssen, Vorwerken.
Er war nach Westen gelaufen. Auf die Front zu. Aber er war der Front noch nicht nahe gekommen, denn er hatte, ohne es zu merken, viele Bogen geschlagen. Undeutlich formte sich in seinem schmerzenden Kopf die Absicht, weiter auf die Front zuzulaufen und sie zu überqueren. Er wußte, daß es vielleicht
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