Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
möglich sein würde, aber er sah, daß der Weg noch sehr weit war. Und er kannte die Wälder nicht, die sich bis dahin erstreckten. Es war Leben in diesen Wäldern dicht an der Front. Sie waren vollgestopft mit Bereitstellungen, mit Infanterie, Artillerie. Sie waren gefährlich und hatten tausend Augen. Tausende von Gewehrläufe lauerten in ihnen. Leute, die ihn fragen würden, wie er zu der Kopfverletzung kam, die ihn überhaupt ansprechen würden und denen er nicht antworten konnte. Er sah an sich herab.
    Unter dem zerfetzten, blutbespritzten Schneehemd trug er die Uniform der Rotarmisten. Er biß sich auf die Lippe und sah auf die Wälder, die in die Karte eingezeichnet waren. Diese Wälder waren nicht für einen Mann wie ihn gemacht. Für einen, der die falsche Uniform trug und der nicht wußte, ob die Wunde am Kopf es ihm in ein paar Stunden noch erlauben würde, aufrecht zu gehen.
    Dann entdeckte er, daß er sich in der Nähe von Haselgarten befand. Er legte den Finger auf die Karte und fuhr von der Stelle, an der er jetzt stand, über das Papier bis nach dem Dorf und von da bis an die Linie, auf der die Front verlief. Es war eine gerade Linie, die er mit dem Finger zog. Er tat es einmal und dann, nach einer Weile, noch einmal. Dabei sah er, daß sein Finger und überhaupt die ganze Hand blutig war, und er betastete instinktiv wieder die Binde am Kopf. Sie fühlte sich steifgefroren an, aber an den Rändern war. sie feucht. Dort quoll langsam das Blut nach, und es lief Bindig auch jetzt noch die Stirn herunter und in die Augen. Aber es lief langsamer, und er brauchte es nicht mehr so oft abzuwischen.
    Haselgarten, dachte er, vielleicht ist es da einfacher, weil man die Gegend kennt. Aber wie werde ich über die Front kommen? Bis ich dort bin, werde ich nur noch schwach auf den Beinen stehen. Und sie werden ein System von Schützenlöchern eingerichtet haben. Aber ich bin nicht mehr der Bindig, der sich lautlos und schnell mit dem Kappmesser eine Gasse macht. Bis ich dort bin, werde ich ein schlappes Gespenst in sowjetischer Uniform sein. Oder ich werde es vorher schon aufgeben. Er ließ den Kopf sinken und schloß die Augen. Sie sind alle tot, dachte er. Timm ist tot, und Zado ist tot. Paniczek auch, und der Obergefreite mit dem Bols. Und die fünf Russen und die anderen ebenso. Ich bin der letzte. Und zur Front führt diese gerade Linie, zwischen den beiden kleinen Seen hindurch, über das Grasland, bis zu dem Gelände, in dem einmal früher die Front verlief, bevor wir Haselgarten verloren. Dann kommt Haselgarten, und weit dahinter verläuft jetzt die Front. Westlich davon. Es ist nicht sicher, ob sie das in die Karte richtig eingezeichnet haben. Als wir abflogen, war ein ziemliches Durcheinander da vorn.
    Der Himmel im Osten wurde hell, Bindig konnte sich nun genau orientieren, als er weiterging. Er schlich über die Straße und schlug den Weg nach Haselgarten ein.
    An der nächsten Straße, die er zu überqueren hatte, mußte er eine Stunde lang seitlich im Wald kauern, bis er es wagen konnte, die Fahrbahn zu überschreiten. Es war heller Tag, und Fahrzeuge flitzten über den glattgefahrenen Schnee. Sie nahmen keine Rücksicht auf deutsche Flieger, denn es gab keine, die sie hätten beschießen können. Zuerst hatte Bindig geglaubt, das ganze Hinterland würde in Aufregung versetzt sein durch den Überfall in der Nähe des Holzplatzes. Er hatte angenommen, daß alle Straßen abgesperrt seien und Infanterie systematisch das Land abkämmen würde. Er spürte nichts davon. Es war, als habe sich weiter nichts ereignet. Die Jeeps flitzten geschäftig hin und her, Lastwagen dröhnten in unablässigen Kolonnen. Dazwischen Panzer und Artillerie, immer wieder Artillerie, Pferdefahrzeuge mit vermummten Gestalten auf den Kutschböcken, oft in langen Kolonnen. An manche der Pferdewagen waren Schlitten gebunden. Kleine, einem flachen Boot ähnelnde vollbepackte Transportmittel. Bindig lag im verschneiten Gehölz, und es bereitete ihm Mühe, alles in sich aufzunehmen, was auf der Straße vor sich ging. Der Schmerz bohrte in seinem Kopf; manchmal mußte
    er minutenlang die Augen schließen. Als er eine Stunde an der Fahrbahn gelegen hatte, begriff er, wie wenig das Unternehmen Friedhof einen Aufmarschplan dieser Armee erschüttern konnte. Er hatte noch nie so direkt und so nahe an einer Nachschubstraße gelegen. Es war das erstemal, daß er die fremden Soldaten aus so geringer Entfernung betrachtete, ohne einen Auftrag

Weitere Kostenlose Bücher