Die Stunde der toten Augen
zu haben, der ihm einen bestimmten Weg wies. Endlich, als der Strom der Fahrzeuge für kurze Zeit abriß, raffte er sich auf und wagte den Sprung über die Straße. Der Schweiß brach ihm aus den Poren, als er auf der anderen Seite im Geäst der Bäume verschwand. Er glaubte noch lange, entdeckt zu sein, und manchmal blieb er stehen, die Pistole in der Hand, um seine vermeintlichen Verfolger zu erwarten. Sie kamen nicht.
Er bekam überhaupt den ganzen Tag keinen Soldaten mehr zu Gesicht, denn jedesmal, wenn er Anzeichen für die Ansammlung von Truppen entdeckte, schlug er einen großen Bogen. Am Nachmittag war sein Hunger so stark, daß er die letzte Schokolade aß. Nun hatte er nichts mehr in den Taschen als das Pervitin und ein paar Zigaretten. Haselgarten war nur eine Kleinigkeit näher gekommen. Er hatte zu viele Bogen gemacht, und er hatte zu oft, erschöpft vom Blutverlust, ausruhen müssen. Aber er schleppte sich weiter, bis die Dämmerung kam. Das war um die Zeit, als er eins der Dörfer umgehen mußte, die auf seinem Weg lagen. Er schlich sich in weitem Bogen seitwärts daran vorbei, aber das Dorf dehnte sich weit aus, und es lag voller Truppen. Aus den Kaminen stieg Rauch in den Himmel. Bindig beobachtete das Treiben zwischen den Häusern eine Weile vom Rande einer Sandgrube aus. Die rauchenden Kamine und die Lichter in den Fenstern riefen in ihm die Erinnerung an Wärme und Geborgenheit wach. Er starrte auf das Dorf, und zum erstenmal überlegte er, was wohl geschehen würde, wenn er jetzt einfach dorthin ginge und sich gefangengäbe. Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, er sah nur auf seine Stiefel und auf die braungelbe Uniform, die er trug. Er sagte sich, daß es nicht möglich war, einfach dort hinzugehen, ohne sich damit abzufinden, daß man getötet wurde. Und er wollte leben, er hatte noch nie zuvor sich so mit aller Kraft an das Leben geklammert. Er wollte es retten.
Sie töten dich, dachte er. Du hast ihre Uniform an, das ist verboten. Sie haben das Recht, dich einfach an die Wand zu stellen, und niemand wird dich bedauern, wenn sie es tun. Du hast den Einsatz gekannt, und du bist mitgegangen. So sieht das Ende aus. Du mußt weitermarschieren.
Später machte er im Wald einen Weg ausfindig, der schnurgerade nach Westen führte. Der Weg war verschneit, und Bindig ging ihn, bis er kurz nach Mitternacht wieder aus dem Wald herauskam.
Da lag vor ihm eine ziemlich weite, freie Fläche, ein See, an dessen rechtem Ufer eine Straße entlanglief, auf der die Scheinwerfer von Fahrzeugen herumtasteten. Links schloß sich ein Dorf an das Seeufer an. Eins von den kleinen, geduckten Dörfern mit ihren verschneiten Häusern. Bindig sah, daß in einigen der Fenster Licht brannte, und er wußte, daß er zwischen der Straße und dem Dorf den See überqueren mußte. Es war dunkel. Man würde ihn auf diese Entfernung weder von der Straße her noch vom Dorf aus sehen können. Er trat noch einmal in den Schatten der Bäume und brannte den Stummel einer Zigarette an, die er mittags zur Hälfte geraucht hatte. Dabei betrachtete er den See und schätzte die Entfernung ab. Er würde einen Kilometer oder mehr zu laufen haben, bis er am anderen Ufer war. Und dort begann Buschwerk, das zuletzt in einen nur undeutlich erkennbaren Wald überging. Es war eine weite Strecke.
Das Eis war nur mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Der Wind hatte den Schnee fortgetrieben. Nur zuweilen türmte sich eine einzelne Wehe höher auf. Bindigs Stiefel waren mit Leder beschlagen. Das verlieh ihm einen sicheren Halt auf der glatten Eisfläche. Aber sein Gang war schwankend. Er war müde und hungrig. Der Schmerz im Kopf war noch immer da. Er hatte zwar nachgelassen, aber die Tabletten, die Bindig von Zeit zu Zeit nahm, konnten ihn nicht ganz beseitigen.
So kam es, daß er mehr glitt als ging und die Stelle im Eis nicht bemerkte, die unsicher war. Vor Tagen hatte hier jemand gefischt. Er hatte das Eis aufgehackt oder auch aufgesprengt, hatte ein paar Handgranaten ins Wasser fallen lassen und die nach der Explosion mit zerrissener Schwimmblase oben treibenden Fische aufgelesen. Einige von ihnen, die ihm zu klein gewesen waren, hatte er liegenlassen. Sie waren nach Stunden, als sich die geöffnete Stelle wieder mit einer neuen Eisschicht überzog, in diese Schicht eingefroren.
Das alles sah und begriff Bindig erst viel später.
Er trat auf die neue Eisschicht, und sie gab unter seinen Füßen nach. Er warf sich zurück, aber die
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