Die Stunde der toten Augen
konnte kaum etwas darauf erkennen. Er nahm die Richtung nach Westen auf und
schleppte sich weiter. Manchmal drohte er umzufallen, und dann lehnte er sich minutenlang an einen Stamm. Die Kälte stach in seinem Körper, und dort, wo die gefrorene Kleidung an der Wärme des Körpers auftaute, verursachte sie ihm Frostschauer.
Am Morgen sah er wieder auf die Karte. Er befand sich in der Gegend um Haselgarten. Er stand an einen Baum gelehnt und beobachtete das Land.
Weit im Westen lag das Dorf. Er konnte es sehen. Es lag im Morgendunst, und Bindig zweifelte daran, daß er noch die Kraft aufbringen würde, sich bis dahin zu schleppen. Von Haselgarten aus konnte es nicht mehr weit bis zur Front sein, und Bindig rechnete damit, daß später, wenn die Artillerie zu schießen begann, er auf diese Weise die Richtung gewiesen bekommen würde. Aber was nutzte die Richtung, wenn es ihm nicht mehr möglich war, die Entfernung zurückzulegen? Er mußte jetzt sehr vorsichtig sein. Öfter als sonst bewegten sich Kolonnen auf Straßen und Nebenwegen. Hier und da waren Geschütze abgestellt. Es war alles in Bewegung.
Es war ein emsiges Hin und Her, und Bindig zweifelte langsam daran, daß er es überhaupt bis zur Front schaffen würde.
Das, womit er hier zu rechnen hatte, war nicht mehr ein einzelner Posten, den er bei Nacht überfiel. Das war eine ganze Armee mit allem, was sie für die nächste Offensive aufbot. Es war ein Heerlager von riesigen Ausmaßen, dessen Dichte Bindig unglaublich erschien.
Der weiße Umhang war so zerrissen, daß er hinter Bindig auf dem Schnee schleifte. Er zog ihn ab und ließ ihn einfach liegen. Während er sich weiterschleppte, merkte er, daß seine Kräfte zu Ende waren. Seine Schritte wurden immer unsicherer, und die Schmerzen zermürbten ihn, seit er keine Tabletten mehr dagegen nehmen konnte. Er besaß noch zwei Zigaretten, aber sie waren ebenso wie die letzten Schmerztabletten im Eiswasser des Sees aufgeweicht und unbrauchbar geworden. Das Feuerzeug hatte er irgendwo verloren. Er bedauerte es nicht. Er hatte überhaupt nicht mehr die Kraft, etwas zu bedauern. Er schleppte sich vorwärts. Das einzige, wozu er sich aufraffte, war die Aufmerksamkeit, mit der er die Gegend beobachtete. Es war die Angst, die ihn dazu trieb, aber das merkte er nicht.
Gegen Mittag brach er das erstemal zusammen und blieb zwischen den dürren Büschen des Graslandes, das er überquerte, eine Stunde liegen. Er fühlte sich nicht gestärkt, als er aufwachte, aber es gelang ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Als der Tag zu Ende ging, lag er auf einer Böschung am Rande des Hohlweges, der einmal von Haselgarten zur Front geführt hatte, und sah hinüber nach dem Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte.
Es bereitete ihm ein wenig Schmerz, diese Gegend noch einmal zu sehen, aber seine Fähigkeit, etwas zu empfinden, war in den letzten beiden Nächten abgestumpft, und er bestand nur noch aus einem Bündel Knochen und Muskeln, das schlaff und kraftlos dem Lebensinstinkt folgte. Er konnte das Gehöft deutlich sehen. Es schien nichts verändert zu sein. Offenbar hatte das Haus bei den Kämpfen keinen Treffer abbekommen. Auch der Zaun stand noch, aber das Hoftor war offen. In den Fenstern saßen noch die alten, zusammengestückelten Scherben. Nach einer Weile schien es Bindig, als steige aus dem Schornstein eine feine Rauchfahne empor. Aber er konnte es nicht genau erkennen, denn hinter dem Haus stand eine dunkelgraue Wolke, von der sich der Rauch, der aus dem Kamin stieg, nicht abhob.
Die Frau erschien ganz plötzlich auf dem Hof. Sie trat aus der Haustür und stellte einen Eimer mit Futter ins Freie, so wie sie es oft getan hatte, wenn Bindig bei ihr gewesen war. Sie trug ein rotes Kopftuch und hielt sich nicht lange im Hof auf. Sie stellte nur den Eimer ab und ging ins Haus zurück. Hinter der grauen Wolke lag Westen. Aus der gleichen Richtung kam gedämpftes Gewummer von Geschützen. Ein paar einzelne Schüsse, die wenig Bedeutung hatten. Die Schneefläche um das Dorf war zerwühlt und schmutzig. Sie war mit Granatlöchern übersät. Da und dort lag zerschossenes Gerät. Es hatte die letzten Tage nicht mehr geschneit.
Bindig sah ungläubig, fast erschrocken auf das Gehöft. Es war ihm, als täuschten ihn seine Sinne. Er blickte nach der anderen Seite, zum Dorf. Die Soldaten mußten wohl in den Kellern hausen, denn über der Erde gab es nach den letzten Kämpfen kaum noch ein heil gebliebenes Gebäude. Zwischen den Ruinen
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