Die Stunde der toten Augen
Bewegung fiel zu schwach aus. Er brach ein in das klare, eiskalte Wasser, und während er versank, schlug er mit der verletzten Stelle am Kopf hart an die Kante des Eises. Er schrie auf, aber er war bereits mit dem Kopf im Wasser, und es war weiter nichts zu hören als ein undeutliches Gurgeln. Bindig hatte noch Kraft genug, um ein paar Schwimmbewegungen auszuführen, die ihn an die Oberfläche brachten. Er konnte sich über Wasser halten, aber wohin er griff, um sich auf das Eis zu ziehen, bröckelte es ab, und er tauchte bei seinen Versuchen immer wieder mit dem Kopf unter.
Er schluckte das eiskalte Wasser und spürte, wie es langsam seine Kräfte lähmte. Seine Finger erstarrten. Er konnte die Beine in den schweren Stiefeln kaum noch bewegen. Der Entschluß zu schreien kam ganz plötzlich. Bindig rief um Hilfe, ohne zu überlegen, was geschehen würde, wenn jemand ihn hörte. Doch es hörte ihn niemand, denn aus seiner Kehle kam nichts als ein Krächzen, das schon wenige Meter neben der Einbruchstelle nicht mehr vernehmbar war.
Er spürte, daß ihm dadurch keine Hilfe gebracht wurde, und er packte mit verzweifelten Anstrengungen nach den dünnen Eisrändern, die abbrachen und neben seinem Kopf im Wasser trieben. Er merkte nicht, daß er die Binde verloren hatte und daß die Wunde wieder blutete; denn es war dunkel, und er konnte das blutig gefärbte Wasser nicht sehen. Meterweise brach das Eis ab wie sprödes Glas.
Aber dann war Bindig am Rand der alten, dicken Eisfläche angelangt. Er spürte es, denn sie gab unter seinem Griff nicht nach. Sie war fest und hielt sein Gewicht aus, als er sich anklammerte, erschöpft von den Bewegungen, mit denen er sich über Wasser halten mußte.
Es gelang ihm, sich so weit aus dem Wasser herauszuarbeiten, daß er die Ellbogen auf das Eis stützen und sich ausruhen konnte. Dabei spürte er, wie sein Unterkörper langsam erstarrte und wie es immer schwerer wurde, die Glieder zu bewegen. Aber in dem erschöpften Körper lebte noch ein Teil der früheren Zähigkeit, und Bindig, der den Schreck überwunden hatte, begann zu rechnen. Er schob die Ellbogen zentimeterweise so weit auf das Eis, daß er mit dem Kopf weit über dem Rand der Scholle lag. Alles hing davon ab, ob das Eis dieses Gewicht trug. Aber das Eis war dick. Es war das alte Eis aus den Tagen des strengen Frostes.
Bindig merkte, daß ihm aus dem Haar Wasser über das Gesicht lief. Aber dieses Wasser erschien ihm seltsam warm, und als er mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte er, daß es Blut war. Fast im gleichen Augenblick nahm er den Schmerz wahr, der erneut in der Wunde bohrte und der ihm erst jetzt wieder bewußt wurde. Das trieb ihn zu einer letzten, verzweifelten Anstrengung. Er hob erst eine Schulter an und dann die andere. Er spürte, wie er dabei Zentimeter vorwärts rutschte. Er wiederholte es einmal und noch einmal. Die Kante des Eises preßte sich gegen seine Brust, dann war es, als ob
diese Kante immer tiefer rutschte, die Brust hinab bis in die Magengegend, tiefer und weiter, bis das Übergewicht des Körpers über der Kante lag, bis Bindig, sich auf den Unterarmen langsam vorwärts bewegend, die Füße aus dem Wasser ziehen konnte.
Er blieb bewegungslos liegen und ließ den Kopf auf die Hände fallen. Nach einer Viertelstunde klebten die eisigen Kleidungsstücke an seiner Haut, und
nach einer weiteren Viertelstunde waren sie steif gefroren. Das Blut, das auf seine Handflächen rann, war warm. Er hob müde den Kopf und sah sich um. Weit und breit war kein Mensch. Niemand hatte ihn gehört oder gesehen. Da vorn ging der See zu Ende, das waren noch ein paar hundert Meter.
Er arbeitete sich hoch, bis er auf den Knien lag. Er fühlte sich schwindlig und kraftlos. Jede Bewegung verstärkte den bohrenden Schmerz am Kopf.
Wenn er sich bewegte, raschelten die gefrorenen Kleidungsstücke. Auf den Knien liegend, riß Bindig von dem einstmals weißen Schneehemd, das
zerfetzt und schmutzig geworden war, einen Fetzen ab. Er mußte ihn in der
Hand auftauen, denn er war gefroren. Er band den Fetzen, so gut es ihm gelang, um den Kopf, und dann bekam er es fertig, sich mit großer
Kraftanstrengung auf die Füße zu stellen. Die Knie knickten ihm ein, als er sich weiterschleppte, aber er schleppte sich bis an den Rand des Sees und von dort weiter, durch das halbhohe Buschwerk, durch knöcheltiefen, leicht verharschten Schnee, bis zum Wald.
Im schwachen Mondlicht zog er aus der Tasche die Karte, aber er
Weitere Kostenlose Bücher