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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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und zeugte Enos ..."
    Einer der Männer lachte laut auf, und der Leser unterbrach sich. „Hundertundfünf Jahre alt und zeugte Enos!" grölte Timm. „Stellt euch vor, was der mit dreißig gemacht hat! Oder mit fünfundzwanzig! Das waren noch Zeiten!"
    „Da hatten sie alle sieben Weiber ...", sagte ein anderer, „ich hab's irgendwo gelesen. Die Juden hatten alle sieben Weiber. Und damals gab's nichts als Juden auf der Welt. Könnt ihr euch das vorstellen?"
    „Diese Bibel ist gut", sagte der Vorlesende, „ich werde sie mitnehmen. Sie ist beinahe so interessant wie ein Dreißig-Pfennig-Roman." Er vertiefte sich wieder in das Buch, und die anderen begannen, sich gedämpft über ein Bordell in Amsterdam zu unterhalten, an das sie sich alle noch erinnerten, weil es dort ein Zimmer mit einem Filmapparat gegeben hatte. Mit acht Lagerstätten und einem Filmapparat und einer Leinwand an der Stirnseite des Raumes.
    „Hör mal...", wandte sich Paniczek an Zado, „willst du dir eine Flasche Schnaps verdienen?"
    Zado schaute geringschätzig und antwortete: „Ich habe noch ein paar im Gepäck. Besseren, als du hast."
    „Aber trotzdem", beharrte der andere, „Schnaps kann man nie genug haben. Willst du?"
    „Was?"
    „Du sollst mir was schreiben und kriegst eine Flasche Schnaps. Guten deutschen."
    Paniczek wandte sich manchmal an einen der anderen, wenn er etwas zu schreiben hatte. Ein Urlaubsgesuch, eine Meldung oder wie damals, als Zado ihm geholfen hatte, eine Anweisung nach Hause, daß irgendein Janek Streletzki das Zimmer von Paniczek ausräumen, alles verkaufen und ihm das Geld schicken solle. Paniczek konnte nicht schreiben, er hatte es nie gelernt.
    „Was soll ich dir schreiben?" fragte Zado. „Ein Urlaubsgesuch?"
    „Nein. Nicht Urlaubsgesuch. Andere Sache."
    „Was für eine Sache?"
    „Komm mit. Oder willst du noch Musik hören?"
    „Ich höre seit einer Viertelstunde keine Musik mehr", sagte Zado und erhob sich, „meine Ohren sind voll Schnaps."
    Sie gingen den Mittelgang entlang, diesmal ohne sich zu stoßen, weil sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.
    Sie gingen trotzdem langsam, und Mosek begann „Lilli Marien" zu spielen, und sie hörten Klaus Timm grölen; „... werd' ich bei der Laterne stehn..." Dann schlug die Tür hinter ihnen zu, und die Kälte der Nacht fiel sie an. Sie stolperten die Stufen hinab, und die Musik klang dünn hinter ihnen her.
    An der Front rollte der Donner ferner Geschütze. Das Dorf lag dunkel. Die Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden. Paniczek schlug den Kragen der Tarnjacke hoch und sagte: „Du brauchst nicht viel zu schreiben. Bloß ein bißchen. Einen Brief, kleinen. An ein unbekanntes Mädchen ..."
    „Eh...", sagte Zado, „du und ein unbekanntes Mädchen. Wo hast du die aufgegabelt?"
    Paniczek legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Er hauchte ihm eine Wolke Schnapsdunst ins Gesicht und sagte treuherzig: „Ein schönes Mädchen. Viel zu schön für unbekannt. Sie haben mir heute mittag ein Päckchen von ihr gegeben. Ein schönes Mädchen ..."
    „Hast du ein Bild von ihr?"
    „Fünf Stück. Große Bilder."
    „Ich werd' verrückt", sagte Zado. „Zum Schluß wird aus diesem Krieg noch eine Ehevermittlung!"
    Paniczek zeigte ihm das Päckchen, als sie in dem Hause angekommen waren, das sie bewohnten. Zado rückte die Schnapskiste des betrunkenen Obergefreiten in die Nähe des Ofens, stellte die Petroleumlampe auf und holte einen Bogen sauberes Papier aus seinem Rucksack. Er hockte sich auf den Fußboden und schrieb. Er hatte eine saubere Handschrift, und er wußte, wie man Briefe schreiben muß. Paniczek zeigte ihm alles, was in dem Päckchen gewesen war, und er gab ihm zu lesen, was das Mädchen geschrieben hatte. Er holte die Flasche Schnaps und noch eine andere, halbvolle, und hockte sich neben Zado. Er legte ihm eine Packung Zigaretten hin und nahm die Mütze ab, als fände eine Feier statt.
    In dem Päckchen waren zwei Paar Socken und drei Taschentücher gewesen, die Zigaretten, die vor Zado lagen, eine Tafel erstaunlich guter Schokolade und ein grün-gelb gemusterter Seidenschal. Das Mädchen schrieb einen langen Brief, und sie erzählte dem unbekannten Empfänger, daß sie aus dem gleichen Stoff, von dem der Schal gemacht war, ein Kleid habe. Ihr Vater habe den Stoff aus Frankreich geschickt. Er sei ein leitender Angestellter bei der IG-Farben in Frankfurt, und er reise oft ins Ausland.
    „Wo ist das, Frankfurt?" fragte

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