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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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jeder der Holzbänke, aus den Läufern und aus den golddurchwirkten Decken, die auf dem Altar lagen.
    Die Christusfigur stand noch dort, und das flackernde Licht spielte darauf. Die Farben leuchteten nicht, dafür war das Licht zu schwach. Das Blut an den Nägeln, die durch die Füße geschlagen waren, erschien ebenso schwarz wie die Falten des Lendentuches und die Dornenkrone auf dem Haupt des Gekreuzigten. Um das Licht herum glimmten die Zigaretten. Zado schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. Mosek spielte „Sing, Nachtigall, sing", und die Soldaten summten andächtig mit. Die Sterne in der Lücke im Dach flimmerten unruhig.
    Zado versank in dieser gespenstischen Atmosphäre, bis Paniczek ihn plötzlich anstieß und fragte: „Warum säufst du nicht? Sauf doch! Gibt nicht alle Tage Schnaps und Musik!"
    „... als der Liebste mich besessen ...", sagte einer der Männer. Zado erkannte Klaus Timm an der Stimme, Timm, dachte er. Das läßt er sich nicht entgehen. Das ist was für Timm. Genever und Weihrauch, und der Jesus am Kreuz, im Schein des Hindenburglichtes, und dabei „. .. als der Liebste mich besessen".
    Wir sind alle sentimental, dachte er. Wir sind wie die alten Jungfern, wenn es uns packt. Wir sind keine Männer mehr. Sentimentale Waschlappen, perfekt im Töten und im sachkundigen Anlegen von Sprengungen. Und ein Schmarren bringt uns zum Heulen. Wir gäben allesamt den Inhalt für ein Museum ab, in dem die Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts für die Nachwelt zur Schau gestellt werden. Die Russen würden heute noch ohne Artillerie und Panzer angreifen, wenn sie wüßten, wer in unseren Uniformen steckt.
    Die Orgel brach jäh ab, und Moseks Stimme rief von der Empore im breiten, gemütlichen Dialekt des Rheinländers herunter: „Bringt mir was Schnaps, Jungens!"
    Sie brachten ihm Schnaps und auch dem anderen, der den Balg trat. Sie brannten ihm eine Zigarette an und steckten sie ihm zwischen die Lippen. Sie waren großartige Kameraden, denn es war Schnaps von ihrem Schnaps, und es war eine Zigarette von ihren Zigaretten. Sie hockten da und summten mit, und wenn er etwas Lustiges spielte, hellten sich ihre Gesichter auf, und sie lächelten einander zu und schlugen sich auf die Schenkel. Mosek spielte
    „Anna Marianna", und Klaus Timm grölte plötzlich laut: „Spiel was Schräges, nicht diesen alten Fetzen!" Aber einer von den anderen verlangte sofort: „Weiterspielen! Das ist mein Lieblingslied !" Zado trank wieder. Er merkte, wie ihm der Genever langsam zu Kopfe stieg. Es ist ein verdammtes Zeug, dachte er. Morgen werde ich einen Brummschädel haben. Ich hätte lieber von dem Besoffenen eine Flasche Bols mitnehmen sollen.
    Er merkte, daß der Schnaps ihn in Stimmung brachte, und sagte grinsend zu Paniczek: „Wenn der jetzt .Deutschland, Deutschland über alles' spielt, was machen sie dann? Stehen sie auf und heben die Hand, oder knien sie und schlagen sich an die Brust?"
    Der Hüne lachte, behäbig auf und stieß mit seiner Flasche an die Zados. Er grunzte dabei: „So gefällst du mir, Zado!"
    Zado wußte nicht mehr genau, wie viele Lieder Mosek gespielt hatte, als sich die Tür der Sakristei öffnete und einer mit dem Messbuch in der Hand heraustrat. In der anderen Hand hielt er ein zweites Hindenburglicht.
    „Kein Wein mehr", sagte er zu den anderen, „den hat der Herr Pfarrer mitgenommen. Bloß die Bibel hat er uns dagelassen." Er hockte sich zu den anderen und blätterte in dem Buch. Und die Orgel tönte weiter, und die Sterne flimmerten dort, wo das Dach geborsten war.
    „Diese Bibel", sagte der Soldat mit erhobenem Zeigefinger, „die hat es in sich!" Er drückte seine Zigarette auf dem Läufer aus und begann vorzulesen.
    „Jetzt liest er auch noch eine Messe...", brummte Zado. Er hatte viel von dem Genever getrunken und hatte sich an die Kirche und die Orgel, an den Weihrauchduft und die Christusfigur gewöhnt.
    „Dies ist das Buch von des Menschen Geschlecht", las der Soldat mit erhobenem Finger, „da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Gleichnis Gottes. Und schuf sie, ein Männlein und ein Fräulein, und segnete sie und hieß ihren Namen Mensch, zur Zeit, da sie geschaffen wurden. Und Adam war hundertunddreißig Jahre alt und zeugte einen Sohn, der seinem Bilde ähnlich war und hieß ihn Seth. Und lebte danach achthundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Daß sein ganzes Alter ward neunhundertunddreißig Jahre - und starb. Seth war hundertundfünf Jahre alt

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