Die Stunde der toten Augen
Empore begann „Heimat, deine Sterne" zu spielen.
Einer der Soldaten, die auf den Stufen hockten, hatte Zado erkannt und rief gedämpft: „Zado ... Komm her, wir haben deinen Schnaps hier!"
Es hatte Genever gegeben. Es gab öfters Genever, denn die Kompanie hatte in Holland selbst geholfen, allen Genever, der erreichbar war, in die Fahrzeuge der Division zu verladen. Nun wurde er ausgegeben. Es war klares, scharfes Zeug. Zado trank es nur, wenn er nichts anderes hatte.
Als er auf den Soldaten zuging, der ihn gerufen hatte, erkannte er, daß es Paniczek war. Einer aus Rybnik, der kein Wort Deutsch lesen und schreiben konnte. Einer, der in die Grube eingefahren war, ohne sich darum zu kümmern, ob die Leute ihn für einen Polen oder für einen Deutschen hielten. Bis die Deutschen kamen und Paniczek merkte, daß es die „Rzeczpospolita" nicht mehr gab. Da entdeckte er, daß ab seiner Großmutter alle Vorfahren deutsch gewesen waren, und er brauchte nicht zum Amt wegen der Volksliste.
Paniczek war Reichsdeutscher, der zwar nicht lesen und schreiben, dafür aber in beiden Sprachen sehr abwechslungsreich fluchen konnte und zuweilen zum Spaß seiner Freunde Markstücke zwischen Daumen und Zeigefinger krumm bog. Er war ein hünenhafter Kerl mit breiten Schultern und Händen wie Sandschaufeln. Er hatte die Kräfte eines Stieres, aber er war so gutmütig, daß es den anderen schon keinen Spaß mehr machte, ihn zu hänseln.
„Komm...", forderte er Zado auf, als dieser bis zu ihm getappt war.
„Was macht ihr denn hier?" erkundigte sich Zado verständnislos. „Seid ihr verrückt oder nur besoffen?"
„Alles!" grinste Paniczek. „Verrückt und besoffen auch. Hier hast du Schnaps. Schnaps ist da und Musik."
Er hielt Zado die Flasche hin, und der nahm sie. Er sah, daß sie zur Hälfte gefüllt war. Ein halber Liter Schnaps bedeutete, daß es in spätestens drei Tagen den nächsten Einsatz gab.
Die Orgel dröhnte noch einmal auf, und dann verklang der letzte Ton. Der Spieler setzte zum nächsten Stück an. Er ließ das Instrument voll tönen, so daß es den großen Raum der Kirche mit seinem Klang ausfüllte. Er spielte: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen .. ." Ein paar von den Soldaten, die auf den Altarstufen hockten, sangen mit. Es waren rauhe, kehlige Stimmen, etwas heiser.
„Ihr seid verrückt", sagte Zado, „ihr könnt doch nicht in der Kirche Musik machen. Und saufen ..."
„Setz dich hin und halt die Schnauze", sagte Paniczek, „setz dich hin, du Katholik, und sauf. Aber halt die Schnauze."
Das Hindenburglicht beleuchtete die Gesichter der Männer, die auf den Stufen saßen. Es waren die gleichen Gesichter wie immer. Es war nichts Besonderes in ihnen. So, als säßen sie nicht in einer Kirche, sondere um ein Lagerfeuer zwischen zwei Seen in Masuren.
„Ich bin kein Katholik", sagte Zado, während er sich neben Paniczek hockte, „aber es wird sicher welche geben. Gibt es denn keinen, der euch von dieser Schnapsidee hätte abhalten können?"
Der Hüne klopfte ihm auf die Schulter. „Sauf, Zado. Musik und Schnaps sind das halbe Leben. Die andere Hälfte ist Scheiße. Es gibt keine Katholiken mehr. Und keinen Pfaffen, der diese Kirche behütet. Bald wird es die ganze Kirche nicht mehr geben. Das Dach ist schon kaputt. Dann wird die Orgel nicht mehr spielen, und die andere Hälfte vom Leben wird auch noch Scheiße sein. Und wir vielleicht tot..."
Die Musik rauschte durch das Gewölbe. Mosek war ein guter Spieler. Sie hatten ihn schon oft zum Stab geholt, wenn sie dort ein Fest feierten. Mosek war beliebt. Er spielte einen Swing, und die Tone hüpften aus dem Instrument, überschlugen sich und erklangen voll und schön in der ausgezeichneten Akustik des Kirchenbaues.
Sie spielen Swing in der Kirche, dachte Zado. Er riß den Korken aus der Flasche und nahm einen langen Zug. Eigentlich war nichts dabei. Paniczek hatte recht. Wer weiß, wie lange die Kirche noch stand. Es war dieses riesengroße „Wer weiß", womit man alles begründen konnte, was geschah. Die lang gezogenen Orgeltöne brachten seine Trommelfelle zum Schwingen. Es war, als säße er auf der Empore, zu nahe an der Orgel. Er blickte nach der Decke und sah die Sterne durch das zerfetzte Dach. Es roch noch immer nach Weihrauch in der Kirche. Sie war wohl wochenlang nicht benutzt worden, und das Loch im Dach war ebenfalls Wochen alt. Aber der Geruch des Räucherwerks hatte sich erhalten. Er kam von jedem Stück Mauer und von
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