Die Stunde der toten Augen
einen Zigarettenstummel in das durchsichtige Gefäß zu werfen und zu beobachten, wie er langsam verglomm.
Himmel, dachte Zado, wie lange wird es dauern, und sie werden sich die Perlen von den Rosenkränzen als Knöpfe an die Kleider nähen! Wenn es das Mädchen nicht gäbe, würde ich auch saufen, dachte Zado. Immer wenn es kein Mädchen gab, habe ich gesoffen. Und ich würde es auch jetzt tun. Sie hatte ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. Ein blaß violetter Bilderbogen, von einem Pfuscher gezeichnet. Die Tochter eines Bäckers aus Goldap. Die Eltern auf der Flucht bei einem Fliegerangriff getötet. Die Wehrmacht nahm das Mädchen weiter mit. Und sie sorgte auch für sie. Man ließ sie in der Küche helfen. Sie bekam das Essen dafür. Nachdem der Küchenbulle sie gehabt hatte, brachte sie sogar gelegentlich Zigaretten und Schokolade nach Hause. Später das Parfüm. Ein parfümierter Bilderbogen. Zado fuhr in seine Schuhe und dachte angeekelt an die aufgeschwemmten Finger des Küchenbullen. Die Pokerkarten klebten an diesen Fingern, als wären sie mit Kleister bestrichen. Er erinnerte sich, daß er schon oft an diese Finger gedacht hatte. Er hatte dann überlegt, ob es möglich war, daß diese Finger ein klebriges Gefühl auf der Haut des Mädchens zurückgelassen hatten. Er hockte auf seiner Matratze und schnürte die Schuhe zu. Zado, dachte er, was wird aus dir? Eine Frau? Diese?
Unsinn. Du wirst jede Nacht glauben, ihre Haut klebe noch von den Fingern des Küchenbullen. Und eine von zu Hause? Du wirst jede Nacht den Rekruten vor dir sehen, der es mit ihr trieb, während du hier an deinem Fallschirm baumeltest.
„Ich habe dich sehr lieb", hatte das Mädchen gesagt. Sehr leise und so, daß man es ihr glauben konnte.
Die auswechselbare Liebe, dachte Zado. Die Liebe der kämpfenden germanischen Rasse. Die Liebe zwischen den klebrigen Fingern des einen und den entzündeten Pickeln des anderen. Die Liebe des Jahres neunzehnhundertvierundvierzig und später. Die Liebe der Helden unserer Zeit. Über was man nicht alles nachdenkt, sagte er sich. Aber es ist nichts daran zu ändern. Sie haben es geschafft. Sie haben die Männer zu Helden gemacht und die Frauen zu Huren.
„Hör mal, du Stint!" sagte er unvermittelt zu dem Obergefreiten. „Wo sind eigentlich die anderen hin?"
Der Betrunkene grinste über das ganze Gesicht. Er rollte die Augen und griff, als wäre er durch Zados Frage aufgewacht, wieder nach der Flasche. „In der Kirche ...", lallte er glucksend. Er nahm einen Schluck und wischte sich den Mund. „Alle in der Kirche. Mosek an der Spitze, hü Aber nicht... beten ..." Da streifte Zado sich die Tarnjacke wieder über und setzte die Mütze auf. Der Betrunkene kicherte hinter ihm her, als er den Raum verließ.
Er hörte die Musik schon, als er sich der Kirche näherte. Er blieb stehen und lauschte einen Augenblick ungläubig.
Die Kirche stand am Rande eines kleinen Platzes, mitten im Dorf. Ihre Mauern waren von Ranken bewachsen. Ein altes, ehrwürdiges Bauwerk. Der Glockenstuhl war zerstört, obgleich die Glocke noch unversehrt hing. Eine Granate war in den Turm gefahren, hatte ihn stark beschädigt und auch einen Teil des Daches aufgerissen, so daß die Dachziegel unordentlich umherlagen.
Wenn der erste Schnee kommt, wird er durch dieses Loch hindurch fallen, dachte Zado. Er hörte jetzt ganz deutlich die Orgel spielen. Die Orgel war also nicht getroffen worden. Er stieg die Stufen hinauf und öffnete langsam die Tür. Sie quietschte leise in den Angeln, aber sie ließ sich leicht öffnen. Es war dunkel, bis auf die trübe Flamme eines Hindenburglichtes, das auf den Stufen zum Altar brannte. Um dieses Licht herum hockten etwas mehr als ein Dutzend Männer. Sie hatten den Läufer, der die Treppen hinaufführte, so zusammengelegt, daß jeder davon ein Stück als Sitzunterlage abbekam. Zado bemühte sich, auf das Licht zuzugehen, aber es war dunkel in der Kirche, und er stieß sich an den Holzbänken, bis er sich zum Mittelgang durchgearbeitet hatte. Er stolperte über einen zusammengeschobenen Teppich und fluchte laut. Es wurde ihm erst jetzt bewußt, daß diese Situation in der Kirche von Haselgarten eigenartig war. Er erinnerte sich nur noch schwach, wie eine Kirche ausgesehen hatte, in der er als Kind gewesen war. Und jetzt, in diesem Dorf, bei sinkender Nacht mit einem Dutzend Soldaten vor dem Hauptaltar. Um ein Hindenburglicht geschart. Das mutete gespenstisch an, irrsinnig. Die Orgel auf der
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