Die Stunde der toten Augen
Paniczek.
„Am Main", sagte Zado und las weiter.
„Aha, am Main." Paniczek nickte.
Das Mädchen schrieb, daß sie siebzehn Jahre alt sei und daß sie sich auf das Abitur vorbereite. Sie erlebe alle Taten der Soldaten so intensiv mit, daß sie es als ihren persönlichen Wunsch betrachte, wenigstens einem einzelnen hin und wieder eine Freude zu machen. Sie würde ihn auch im Urlaub einladen, denn sie führten zu Hause ein gastliches Haus, und ihre Schulkameradinnen würden staunen, wenn einmal ein Soldat zu ihr auf Besuch käme und sie mit ihm ausginge. Ob der Empfänger Orden habe? Wer er überhaupt sei? Er solle unbedingt schreiben, und er solle sich etwas zu Weihnachten wünschen, sie würde es schon beschaffen. Ob er blond wäre?
„Jesus Maria", grinste Zado, „ein Glück, daß du wenigstens blond bist!"
„Ich habe auch Orden", sagte Paniczek zögernd. „Das Mädchen spielt Klavier ..."
„Du wirst sie kaum begleiten können", sagte Zado bissig. „Aber vielleicht brauchen sie in ihrer Villa nach dem Krieg mal einen Portier."
Er besah sich die Fotografien. Es waren Aufnahmen von einem sehr jungen, aber bereits erstaunlich entwickelten Mädchen, das gute Kleider vom letzten Schnitt trug und moderne Korksohlen- schuhe. Sie hatte ein nichtssagendes Gesicht, aber Paniczek fand es schön. Besonders auf dem einen Bild, auf dem das Mädchen an einem Klavier saß, in einem Kleid, das sehr viel von ihren Schultern frei ließ.
„Sie braucht keine Angst zu haben, daß ihr das Kleid herunterrutscht ...", brummte Zado, „na, wir werden ihr einen Brief hinschreiben, über den sie sich freut!"
Jung und verwöhnt, dachte Zado. Ein Töchterchen in der Pubertät. In einer gepflegten Villenviertelpubertät. Man könnte zum Helden werden, wenn man sich überlegt, daß man für so was Soldat spielt.
Er starrte auf den Briefbogen, auf den er geschrieben hatte: „Mein liebes, unbekanntes Mädchen!", und sah das Haus vor sich, wenn morgens das Dienstmädchen an das Zimmer des jungen Fräuleins klopfte. Und dann sah er, wie sich das Mädchen im Bett aufrichtete und nach dem Wetter schaute. Wie es einen Flunsch zog und sich aus dem Bett rekelte. Wie es in einem sauber gekachelten Badezimmer unter der Brause stand, eine dicht abschließende Badekappe auf dem sauber ondulierten Haar. Er sah es ein Kleid auswählen. Mit Bedacht und mit viel anerzogenem Geschmack. Und ein paar passende Schuhe dazu. Strümpfe. Er sah es die Fingernägel maniküren und schließlich seinen Kakao trinken, ein paar Honigbrötchen essen und dann in der Schule sitzen, ein wenig uninteressiert schon, halb erwachsen. Er sah es durch die Straßen bummeln, mit leichtfüßigem, graziösem Schritt, und er sah es an den Knöpfen des Radios drehen und einen jungen Tanzstunden-dandy mit ihr tanzen. Und die Stunden daheim, wenn sie die Langeweile plagte. Den abgekauten Federhalter, wenn sie an den unbekannten Soldaten schrieb, und Rilkes Gedichte auf dem Nachttisch, neben einer angeknabberten Schokoladentafel und einem Flakon „Cat noir", den der Vater aus Paris geschickt hatte. Und dann blickte er zur Seite und sah Paniczek andächtig neben sich hocken.
Und er sagte: „Jesus Matta, Panje, das hätte ich bald übersehen: Sie trägt ja ein Kreuz an dem Kettchen um den Hals!"
„Katholisch", brummte Paniczek.
Der betrunkene Obergefreite in der Ecke hob den Kopf und rülpste. „Ist die Kirche schon aus?" fragte er.
Zado antwortete: „Sie ist eingefallen. Jesus hat den Finger bewegt." Dann begann er zu schreiben. Er schrieb eine Zeile um die andere. Paniczek beobachtete ihn mit wachen Augen und bot ihm eine Zigarette nach der anderen an.
„Was schreibst du ihr nur alles?" erkundigte et sich unsicher. „Du mußt mir das vorlesen ..."
Der Betrunkene kicherte: „Ein Kerl wie Samt und Seide..."
Zado griff nach der Flasche. Er schrieb dem Mädchen, das Barbara hieß, alles, was er immer hatte irgendeiner Frau schreiben wollen und doch keiner geschrieben hatte. Seine Sehnsucht und seine Hoffnung, sein Bedürfnis nach Liebe. Er schrieb alles, was man einem solchen Mädchen schreiben mußte. Die alte, glatte Geschichte von der unerschütterlichen Standhaftigkeit des deutschen Soldaten, von seiner Siegesgewißheit und von seinem Mut, den keine Angst trübte. Er schrieb von den Träumen in den kurzen Nächten und von den Stunden, in denen die Artillerie die Schützenlöcher umwühlte, wenn Menschen starben, Fahrzeuge hellauf brannten und die Geschosse die
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