Die Stunde der toten Augen
Druckes auf den Abzug, um sie zu spannen, gleichzeitig die erste Patrone aus dem Magazin in den Lauf zu transportieren und danach ebenfalls noch mit diesem einzigen Druck auf den Abzug den Schuß auszulösen. Das hieß, daß man sie völlig sicher, ungespannt und trotzdem jede Sekunde feuerbereit in der Tasche tragen konnte. Es war eine schnelle Pistole.
Selbstverständlich konnte man sie auch spannen. So, daß man den Schuß danach jederzeit, nach Auslösung der Taschensicherung, abfeuern konnte. Oder man ließ die Patrone nur in den Lauf gleiten, ohne den Schlagbolzen zu spannen. Dann mußte man, um den Schuß auslösen zu können, einen kleinen Spannhebel mit dem Daumen zurückbiegen. Bei einiger Übung ging das sehr schnell. Es gab Leute, die auf diese Art besonders gern schossen, wenn es auf diesen einen Schuß ankam, wenn sie vor einem Ziel standen, das nur einen einzigen Schuß zuließ, der über alles entschied. Die Achtunddreißig war eine Waffe, die man nicht gern wieder aus der Hand gab, wenn man sie erst einmal besaß.
Wenn Bindig Zeit hatte, dann nahm er die Pistole und ging irgendwohin, um zu schießen. Er gehörte nicht zu denen, die Kerben in den Griff schnitzen. Aber er hatte mit seiner Acht-unddreißig bereits sechs Menschen, einen toll gewordenen Stier und vier Hühner getötet. Geschossen, mit der Absicht zu töten, hatte er auf die gleiche Zahl von Lebewesen. Diesem Umstand, besonders der Tatsache, daß er auf nicht mehr als sechs Menschen gezielt hatte mit der Absicht zu töten, verdankte er es, daß er noch am Leben war. Er war sich immer darüber klar gewesen, daß es für ihn den Tod bedeutete, auf einen Menschen zu zielen, zu schießen und ihn nicht zu treffen. Das war die einfache Philosophie der Leute von der Aufklärungskompanie. Schießen, wenn es nötig war. Und töten, wenn man schoß. Oder selbst getötet werden.
Das Seltsame an dieser Philosophie war, daß sie niemand erfunden oder in der Instruktionsstunde gelehrt, sondern daß
sie sich einfach ergeben hatte.
Wer ihren Sinn nicht begriff oder wer einen Fehler machte, dessen Name tauchte zum letzten Male in dem Brief auf, den Leutnant Alf an die Angehörigen schrieb. Obwohl Bindig seine Pistole virtuos beherrschte, unterließ er es nicht, gelegentlich zu üben. Er tat das oft auch einfach aus Freude an den Treffern, die er feststellen konnte, und deshalb, weil die Feststellung der Treffer ihm Sicherheit und Selbstvertrauen gab.
An jenem Mittag, nachdem er sein Essen, ein Gemisch von Sauerkraut, Kartoffeln, Gulaschklumpen und salziger Bratensoße verzehrt hatte, begab er sich mit der Pistole und einigen Pappschachteln voll Patronen zu einer Stelle, die hinter einem verlassenen Haus lag. Er hatte dienstfrei. Zado war bei seinem Mädchen. Bindig wußte nicht recht, was er beginnen sollte, und so entschloß er sich, das Porträt des ehemaligen Reichspräsidenten Hindenburg, das er in einem leeren Haus von der Küchenwand genommen hatte, unter den Arm zu klemmen und es auf dem gefrorenen Misthaufen im Rücken des Hauses so aufzustellen, daß es aus einer gewissen Entfernung etwa die Größe eines menschlichen Kopfes hatte.
Der Tag war sonnig, aber kalt. Aus einigen der Häuser stiegen kleine Rauchfahnen auf. Sie standen kerzengerade in der Luft. Der Hall der Schüsse war weithin zu hören. Bindig stand vor dem Misthaufen und schoß ein Magazin nach dem anderen leer. Die Treffer befriedigten ihn. Der Kopf des ehemaligen Reichspräsidenten wies eine stattliche Anzahl von Löchern auf. Als auf dem Kopf nicht mehr zu kontrollieren war, welcher Schuß welches Loch gerissen hatte, zielte Bindig in die weißen Ecken des Bildes, links und rechts über dem Kopf.
Er drückte gerade Patronen in ein leeres Magazin, als er spürte, daß von rückwärts jemand auf ihn zukam. Mit der Pistole in der einen Hand und dem halbvollen Magazin in der anderen drehte er sich um und sah Alf entgegen.
Der Leutnant kam heran und blieb neben ihm stehen, die Hände in die Seiten stemmend.
„Was machen Sie denn hier?" erkundigte er sich mit einem flüchtigen Blick auf das Bild am Misthaufen.
„Ich übe mit der Pistole", antwortete Bindig freundlich. Er hielt nicht viel von Alf, aber immerhin noch mehr als von der Feldgendarmerie.
Der Leutnant sah zuerst Bindig an, dann das Bild, dann Bindigs Pistole und sagte kopfschüttelnd: „Manchmal könnte man glauben, ihr wäret allesamt übergeschnappt. Haben Sie getrunken?"
„Nein, Herr Leutnant", sagte Bindig
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