Die Stunde der toten Augen
unsicher, „wir schießen so wenig scharf, aber man muß doch seine Waffe beherrschen, und..."
„Mann!" unterbrach ihn Alf. „Meinetwegen können Sie Tag und Nacht schießen. Aber nicht auf dieses Bild!"
Bindig blickte nach dem Misthaufen und zurück auf Alf.
Dieser beobachtete ihn und schüttelte wieder den Kopf. Bindig wußte nichts zu sagen. Er öffnete unschlüssig den Mund und schloß ihn wieder.
„Wissen Sie nicht, wer dieser Mann ist?" fragte Alf. „Haben Sie acht Jahre lang in der Schule gefehlt?"
„Hindenburg, Herr Leutnant", sagte Bindig, „es ist Hindenburg. Natürlich kenne ich ihn."
„Sie kennen ihn nicht", sagte Alf, „sonst würden Sie nicht auf ihn schießen. Wissen Sie, daß Hindenburg Ostpreußen vor dem Einfall der Russen bewahrt hat? Daß er die Russen bei Tannenberg so geschlagen hat, daß sie sich heute noch nicht ganz davon erholt haben?"
„Jawohl, Herr Leutnant", sagte Bindig gehorsam. „Aus der Hand Hindenburgs hat der Führer das Vermächtnis übernommen, Deutschland zu einer stolzen, mächtigen Nation zu machen."
Alf verzog das Gesicht, aber er lachte nicht. Er sah Bindig an und sagte: „Sie sind ein Idiot, Mann! Wollen Sie den Rest des Krieges lieber in einer Strafkompanie verbringen, oder was wollen Sie eigentlich? Begreifen Sie nicht, daß Sie eine der erhabensten Gestalten deutscher Geschichte gröblich beleidigen, indem Sie dieses Bild auf einen Misthaufen stellen und danach schießen?"
Bindig antwortete nicht.
„Gab es denn in diesem verdammten Dorf kein anderes Bild, wonach Sie schießen konnten?"
„Jawohl, Herr Leutnant", sagte Bindig.
Der Offizier trat nahe an ihn heran. Dabei sagte er leise: „Bindig ... werden Sie nicht ulkig. Wenn Sie absolut draufgehen wollen, dann vergessen Sie beim nächsten Einsatz, Ihre Reißleine einzuhängen. Das ist ein schmerzloser Tod. Aber versuchen Sie es nicht auf diese Tour."
„Ich habe mir nichts dabei gedacht, Herr Leutnant", sagte Bindig leise, „ich hätte ebensogut eine Zwölferscheibe nehmen können, aber es war keine da."
„Was sind Sie von Beruf?" erkundigte sich der Leutnant.
„Bibliothekar."
„Bibliothekar sind Sie?"
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Wo haben Sie gearbeitet?"
„In einer städtischen Bibliothek."
„Und dann Kriegsfreiwilliger?"
„Jawohl."
Alf schnackelte mit den Fingern. „Sie haben sich den Krieg anders
vorgestellt, nicht wahr?"
„Ich weiß nicht...", sagte Bindig, unschlüssig, was Alf von ihm wollte.
Aber der ließ ihn nicht weiterreden.
„Was für Schulbildung haben Sie?"
„Gymnasium bis zur Tertia."
„Hm ...", machte Alf, „und dann haben Sie Bücher verkauft?"
„Ausgeliehen, Herr Leutnant."
„Ja, richtig, ausgeliehen. Sie hätten Offizier werden können. Sie können es
jetzt noch. Warum lassen Sie diese Möglichkeit aus?"
Er stellte die Frage nicht sehr ernsthaft, und es schien, als erwarte er auch
keine Erklärung, denn er sah Bindig nicht einmal dabei an.
Bindig sagte: „Ich glaube, ich tauge nicht zum Offizier, Herr Leutnant. Und
dann... es gibt in meinem Beruf Möglichkeiten, vorwärtszukommen ..."
„Sie müssen es wissen." Alf nickte uninteressiert. „Sie verstehen von
Pistolen anscheinend mehr als von den Gestalten der deutschen Geschichte."
„Die Achtunddreißig ist eine herrliche Pistole ... Ich habe schon
verschiedene Pistolen ausprobiert. Die alte Nullacht, die Walther, eine
belgische F&N, eine kanadische und eine russische. Aber die Achtunddreißig
hat mir am besten gefallen."
„Das ist Ansichtssache", sagte Alf. Er wies auf den Misthaufen und forderte Bindig auf: „Schaffen Sie mir ja das Bild dort weg. Danken Sie Gott, daß ich hier Kompaniechef bin und nicht ein anderer. Und jetzt habe ich eine Frage an Sie."
„Jawohl", sagte Bindig.
„Sie kennen Naumann?"
„Den Obergefreiten Naumann, jawohl."
„Sie waren das letztenmal mit ihm zusammen im Einsatz. Wie war das genau mit ihm? Erzählen Sie mir das noch einmal."
Naumann war der Oberkellner aus Stuttgart. Der Mann, der die Brücke gesprengt hatte und der davongekommen war, als die anderen in die Bereitstellung der Sturmgeschütze hineinliefen. Der Mann, der auf dem Rückflug hysterisch wurde und dem Timm die Pistole aus der Hand geschlagen hatte.
Als Bindig dem Offizier alles noch einmal erzählt hatte, schüttelte der den Kopf.
„Naumann ist wieder zurück. Er hat sich bei mir gemeldet. Man hat ihn als gesund entlassen. Überanstrengte Nerven, das war alles, was die
Weitere Kostenlose Bücher