Die Stunde der Wahrheit
Sie fühlte sich einsamer als jemals zuvor in ihrem Leben, während sie die Prozession den Gang entlang führte, um den Schatten Papewaios, des Truppenführers der Acoma, zu ehren. Jingu von den Minwanabi und der Kriegsherr folgten gleich hinter ihr, dann kamen die mächtigsten Familien des Kaiserreiches. Schweigend schritten sie nach draußen ins Tageslicht, das jetzt von Wolken verdüstert war. Maras Schritte waren schwer, ihre Füße schienen sich zu weigern, weiterzugehen, und doch brachte sie bei jedem Trommelschlag einen weiteren Schritt zustande. Sie hatte in der vergangenen Nacht in der Sicherheit der Gemächer des Kriegsherrn geschlafen, doch es war der bleierne Schlaf einer allesumfassenden Müdigkeit gewesen, und so war sie nicht wirklich erfrischt erwacht.
Einer der seltenen Stürme war aus dem Norden hereingebrochen und hatte Nieselregen mitgebracht. Tiefhängende Nebelschwaden kräuselten sich auf der Oberfläche des Sees, so daß er in dem gedämpften Licht steingrau schimmerte. Die Feuchtigkeit kühlte die Luft nach den vielen Wochen trockener Hitze ab, und Mara schauderte. Der Boden unter ihren Füßen war so klamm wie der Tod selbst. Sie dankte der Göttin der Weisheit, daß Nacoya nicht darauf bestanden hatte, an der Beerdigungszeremonie teilzunehmen. Sie waren überein gekommen, daß die alte Frau Unwohlsein vorschützen sollte, die Folge von dem Rauch und Leid der Ereignisse der letzten Nacht. Im Augenblick lag sie sicher auf ihrer Matratze in den Gemächern des Kriegsherrn.
Mara führte die Prozession den sanften Hügel zum Seeufer hinunter, dankbar, daß sie sich nur um ihre eigene Sicherheit kümmern mußte. Die Gäste, die paarweise hinter ihr schritten, waren nervös und unberechenbar wie gefangene Tiere. Niemand von ihnen glaubte die Mär, daß ein Diener die Juwelen der Lady der Minwanabi gestohlen hatte. Niemand von ihnen hatte genug Dreistigkeit besessen und darauf hingewiesen, daß die angebliche Beute in Shimizus Besitz war, während die Flammen den Körper des Diebes verzehrt hatten, noch bevor ihn jemand erreichen konnte. Doch es gab keinen Beweis dafür, daß Jingu seinen Eid, die Sicherheit der Gäste zu schützen, verletzt hatte. Nach diesen Ereignissen mochten Mara und ihre Gefolgschaft nicht mehr die einzigen Ziele für Intrigen sein; keiner der anwesenden Lords würde sich für den Rest der Zusammenkunft zu entspannen wagen, denn es mochten welche unter ihnen sein, die der unsicheren Atmosphäre begegneten, indem sie selbst zuschlugen.
Nur der Kriegsherr schien sich zu amüsieren. Da er die Stimme des Kaisers im Kaiserreich war, boten ihm die Rückschläge der rivalisierenden Parteien, die jetzt hinter ihm gingen, die gleiche Freude wie die Festlichkeiten, mit denen sein Geburtstag geehrt wurde. Diese hatte man wegen Papewaios Beerdigung auf den nächsten Tag verschoben. Almecho wußte, solange sein Gastgeber, der Lord der Minwanabi, seine Aufmerksamkeit auf Mara von den Acoma konzentrierte, würde er nicht danach streben, Weiß und Gold zu tragen – zumindest diese Woche noch nicht.
Obwohl die meisten Gäste in angemessenem Schweigen gingen, hörte Almecho nicht auf, Jingu Scherze ins Ohr zu flüstern. So geriet der Lord der Minwanabi wegen der Schlingen des vorgeschriebenen Protokolls in eine heikle Situation: Sollte er ernst bleiben und damit die übliche Haltung eines Lords bei der Beerdigung eines Mannes an den Tag legen, der bei der Verteidigung seines Besitzes gestorben war? Oder sollte er sich der Stimmung seines Ehrengastes anpassen und zu den Witzen lächeln, die Almecho mit aller Wahrscheinlichkeit deshalb vorbrachte, um genau dieses Dilemma zu erzeugen?
Doch Mara konnte keine Befriedigung aus Jingus Unbehagen ziehen. Vor ihr, auf einer Landzunge jenseits der Anlegestelle, erhob sich der Scheiterhaufen des Truppenführers der Acoma. Er war mit seinem Federbusch und in der zeremoniellen Rüstung aufgebahrt worden, und auf seiner Brust ruhte das Schwert. Darauf lagen seine Hände, ihre gekreuzten Gelenke mit einer scharlachroten Kordel verbunden; es war das Symbol für die Herrschaft des Todes über das Fleisch. Hinter ihm standen die fünfzig Krieger der Acoma. Es war ihnen gestattet worden, an der Zusammenkunft zu Ehren ihres verstorbenen Offiziers teilzunehmen. Mara mußte aus ihrer Gruppe Papewaios Nachfolger auswählen, einen Soldaten, der während der restlichen Feier als Ehrenwache dienen würde. Bei dem Gedanken vergaß sie beinahe weiterzugehen. Es
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