Die Stunde des Adlers (Thriller)
Aber ohne Anzug, mit Jeans, Abercrombie-Shirt und Lederjacke sah der Schlacks auch nicht aus wie ein Bundesbanker. Dass ihn dabei aber ein Augenpaar aus der Masse ganz besonders unter die Lupe nahm, konnte er beim besten Willen nicht bemerken.
»Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt und weil er schwärmt und stählt, weil er wärmt, wenn er erzählt.« Hutter staunte nicht schlecht, als de Wager ansatzlos weiter aus Grönemeyers Mensch vorsang. »Es geht doch um uns Menschen, Dominique.« Sie hatte ihn gar nicht gefragt, ob sie ihn duzen durfte. »Wir wollen weiterleben können, friedlich übrigens.«
»Und weil er lacht, weil er liebt, du fehlst.«
»Es heißt ›weil er lebt‹, nicht ›weil er liebt‹. Aber war einen Versuch wert.«
Hutter wusste nicht genau, wie er das Lächeln deuten sollte, aber irgendwie hatte er wirklich gedacht, dass es »liebt« und nicht »lebt« heißt.
»Freud‘sche Fehlleistung.« Hutter war von sich selbst überrascht, denn eigentlich war er kein Draufgänger, doch das Ambiente der Demo und die schöne Occupistin ließen in seinem Hirn einige Windungen verdrehen.
»Dominique, du bist mir von diesem feinen Herrn als Diskutant angekündigt worden, nicht als ein Date.« Für einen Moment blieb Melanie de Wager stehen, ihr ganzes Auftreten hatte etwas von Jeanne d’Arc.
»Sorry.« Hutter verließ der Mut.
»Zeig erst mal, was du draufhast, dann sehen wir weiter. Ich glaube nicht, dass du die Asamblea so ohne Weiteres von deinem Euro überzeugen kannst.« De Wager hakte sich bei Hutter unter, eigentlich völlig untypisch für eine Demo. Doch so skandierten sie, bis das Camp erreicht war. Nach einer kurzen Kundgebung löste sich das große Treiben zu Hutters Überraschung sehr schnell auf, die Tagesdemonstranten und Wohlstandsegomanen wollten wohl schnell nach Hause in die Vorstädte. Die Camp-Bewohner machten sich auf den Weg ins Ostend und Dominique mitten unter ihnen.
Bis zur Asamblea würde es noch ein wenig dauern, hatte Melanie ihm gesagt. Während sie etwas zu organisieren hatte, zog er durch das Camp. Hier kam kaum hektisches Treiben auf, wie Hutter feststellte. In der Nähe des Hauptzelts wurden unter die Haut gehende Rhythmen getrommelt, das große Eurozeichen am Eingang des Camps war behangen mit Transparenten: »Lasst uns über die Zukunft reden, jetzt!« stand da und »Erst Griechenland, morgen Europa und übermorgen die ganze Welt«. Während an der »Hauptstraße« die Versammlungszelte und Informationsstände lagen, reihten sich die Zelte weiter hinten auf der einen Seite auf, auf der anderen Seite war Platz für Versammlungen unter freiem Himmel. Die Banker aus der EZB, die sich unten an der Großmarkthalle in den Restaurants trafen, konnten den Occupisten quasi bei der Arbeit zuschauen. Hier sehe ich meine Verwandtschaft wieder, soll ein Banker beim Durchlaufen gesagt haben.
Je weiter Hutter das Camp durchschritt, desto mehr kam ihm das Ganze wie ein Pfadfinderlager vor, wozu auch das Tipi beitrug, das auf einem kleinen Hügel am Rande der Asamblea-Wiese lag. Am meisten irritierte Hutter jedoch ein Spruch neben einer griechischen Flagge: »Sie sagen, die Lösung sei eine Militärdiktatur.« War die DMP nicht auch eine Diktatur, schoss es ihm durch den Kopf. Anna-Maria versuchte doch mit allen Mitteln, ihren Willen durchzusetzen. Auch wenn die DMP mit der Rückkehr der D-Mark Wahlkampf gemacht hatte und offensichtlich von vielen Deutschen deswegen gewählt worden war, schien sie überhaupt nicht willens, die politischen Gegenargumente zu hören. Ratlos stand er vor dem Diktatur-Plakat, als Melanie sich plötzlich zu ihm gesellte: »Na, bekommst du Angst?«
»Nein, ich denke nur über diese Diktatur-Sache nach.«
»Wieso?«
»Die schlimmsten Diktaturen waren immer die deutschen …«
»D-Mark und Diktatur sind doch zwei verschiedene Sachen.«
»Es hat auch mal alles mit ›Kauft nur bei Deutschen‹ angefangen.«
»Ich weiß nicht, ich glaube, du siehst weiße Mäuse.«
»Oder die braune Brut.«
»Das kannst du beim besten Willen nicht zusammenbringen. Geschichte wiederholt sich nicht.« Melanies fragender Blick offenbarte allerdings Zweifel an ihrer eigenen Aussage, schließlich studierte sie Politische Wissenschaften.
»Geschichte wiederholt sich nicht auf dieselbe Art und Weise, aber vielleicht sind die Muster ähnlich.«
»Na, dann zeig mal, was du kannst. Ich bin bereit, dir zuzuhören, aber ob das auch meine
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