Die Stunde des Adlers (Thriller)
Europa hatte immer neue Wachstumspakte aufgelegt, die alle mehr oder weniger im Sande verlaufen waren. Die Staaten der Europäischen Union entwickelten sich zu unterschiedlich, als dass eine Währung sie zusammenhalten konnte. Das konnte man auch nicht durch Sanktionsdrohungen aus Brüssel und Berlin ändern. Ihr Verhalten war, wenn man es genau betrachtete, weder in den eigenen noch in den zu sanktionierenden Ländern demokratisch legitimiert.
Sicher, Dohm und von Hartenstein wussten, dass die durchschnittliche Verschuldung der Euroländer von rund 80 Prozent zwar deutlich über dem Maastricht-Kriterium gelegen hatte, aber Probleme machten nur die großen Südländer. Von Hartenstein musste an sein Dolce-Vita-Desaster denken, als Dohm immer wieder Italien nannte. Schon 2012 hatten die Italiener knapp zwei Billionen Euro Schulden, gemessen an der Wirtschaftsleistung mehr als 120 Prozent.
Von den großen Staaten war und blieb Deutschland der einzige Anker, nur wollten die Deutschen nicht mehr. Was ökonomisch gesehen vielleicht richtig war, war politisch absolut falsch. Wenn sich das nicht änderte, würde das im Desaster enden. Entweder in einem Schuldenabbau durch Inflation, möglicherweise durch ein Zerbrechen des Euro oder eines nicht allzu fernen Tages in einer Währungsreform, bei der hinten eine Null weggestrichen würde. Das wäre dann nicht null und nichts, sondern die Reduzierung auf ein Zehntel!
Das war doch der Grund, warum die markige Bewegung an die Macht gekommen war – diese Angst vor Hyperinflation, Währungsreform oder sonst einem monetären Monster. Vor nichts hatten die Deutschen mehr Angst als davor. Und genau damit spielten die Markigen – mit der Angst der Deutschen. Denn die hatten bei allen hausgemachten Problemen ihre größeren Hausaufgaben eigentlich gemacht. Deutschland hatte Anfang des neuen Jahrtausends mit der Agenda 2010 harte Schnitte beschlossen und damit aus dem »kranken Mann Europas« den einzigen »Marathonläufer« der großen Staaten der Eurozone gemacht. Die damalige Bundeskanzlerin hatte von der Agenda-Politik Gerhard Schröders, ihres Vorgängers, profitiert, auch wenn sie das nie zugegeben hätte.
Wer zu fett ist oder auch isst, hatte Dohm nach von Hartensteins süffisantem Hinweis auf den Marathon mit Blick auf Dohms Körperrundung lächelnd beim neunten oder zehnten Bier gesagt, der muss Diät leben und sich gesund ernähren, um wieder dynamisch mitlaufen zu können. Und danach war Dohm auf die Idee mit Currywurst mit Pommes gekommen. Das sah von Hartenstein genauso, aber da er auch diesen postalkoholischen Hunger zu später Stunde verspürte, war ihm das gleich, und schlank war er ja sowieso. Er war auch kein Präsident, der am Ende die Verantwortung tragen musste.
»Es ist ein Pakt mit dem eigenen Körper, Hanns. Ich versuche, das durch Laufen in den Griff zu bekommen, suche mir Vorbilder, die ich beim Laufen lieben und hassen lerne. Und genauso ist es mit Europa. Sie lieben und hassen die Deutschen für ihren Erfolg. Aber du hast recht, Hanns-Hermann. Es ist der einzige Weg. Alles andere führt in noch schlimmere Desaster. Ich muss weiterlaufen, ich muss weitermachen. Es ist und bleibt ein Pakt mit Europa.«
»Mit Erfolg!« Dohm war sich sicher, eher ein Fragezeichen als ein Ausrufezeichen bei von Hartensteins Antwort gehört zu haben, als sie sich – so weit zum Thema Laufen – in den Rücksitz eines Taxis fallen ließen, obwohl es nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor zum Bahnhof an der Friedrichstraße waren.
»Ah, Sie sind Mann von Bank, die D-Mark macht, hä?« Der türkische Taxifahrer schien nicht im Geringsten an die Privatsphäre seiner Gäste zu denken, als er Claus Victor Dohm erkannte.
»Ja, ich bin von der Bundesbank.«
»Bank mit D-Mark. Stimmt?«
»Hören Sie, die gibt es nicht mehr. Wir haben den Euro.« Dohm war zwar angetrunken, doch er genoss es hin und wieder, wenn er einerseits erkannt wurde, andererseits aber normale Menschen traf. Und da er nur noch selten Taxi fuhr, bekam er jetzt so ein Leuchten in den Augen.
»Euro bald weg, oder?« Die beiden hielten Augenkontakt im Rückspiegel, während von Hartenstein mit seinem iPhone spielte.
»Nein.«
»Neue Regierung will Deutsche Mark.«
»Und Sie?« Von Hartenstein mischte sich ein.
»Nein, nix D-Mark, wir Türken wollen ja rein in EU und Euro.«
»Dann passiert Ihnen doch das, was den Griechen passiert ist.« Ruckartig stoppte der alte Benz – mitten auf der
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