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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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Orgagnas Sekretärin und Geliebter. Der Namensunterschied besagte nichts. Jeder konnte seinen Namen ändern. Dennoch mochte es interessant sein, festzustellen, warum Garofano es getan hatte und wie ihm dies im bürokratischen Verwaltungsapparat Italiens gelungen war. Viel wichtiger war, daß er, Ashley, damit die Quelle der Photokopien entdeckt hatte. Eine Sekretärin, die wie Elena zugleich Geliebte ist, hatte selbstverständlich Zugang auch zu den geheimsten Papieren ihres Chefs.
    Doch warum sollte eine Frau ihren Herrn und Geliebten vernichten? Aus Eifersucht? Orgagnas Vergangenheit erwies ihn als unzuverlässigen und rücksichtslosen Geliebten. Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen und einen Ministerposten in einem klerikalen Staat mochte er es wohl für ratsam halten, eine so auffällige und kompromittierende Verbindung zu lösen. Vielleicht war das auch die Erklärung für die Anwesenheit des jungen Tullio Riccioli. Es war ein in Adelskreisen übliches Arrangement, sich einer Geliebten durch Verheiratung zu entledigen. Und in Italien gab es genug Männer, die nur auf solch eine Gelegenheit lauerten. Auf den ersten Blick schien das eine ganz plausible Möglichkeit, doch erklärte sie durchaus nicht die hysterische Bitterkeit des Mädchens ihm gegenüber und ihre strikte Weigerung, Orgagna zu verdächtigen – es sei denn, Orgagna hatte auch für sie ein besonderes Lügengewebe gesponnen. Raffiniert und erfahren genug war er dafür.
    Vielleicht würde es ihm in der Villa des Herzogs möglich sein, Elena näher zu kommen und aus einer Feindin eine Verbündete zu machen …
    Dann dachte Ashley an Rossana, die schöne, falsche Geliebte aus alten Zeiten. Es fiel ihm ein, daß sie ihre Aussage nicht in seiner Gegenwart gemacht hatte. Nur in Gegenwart Granfortes und ihres Mannes. Er fragte sich, ob sie ihn wohl auch in diesem Fall verraten und ihn, um sich und ihren Mann zu retten, als Lügner hingestellt hatte. Es schien durchaus wahrscheinlich.
    Dann war da noch Harlequin, der Mann mit der flachen Stimme und den blassen, kalten Augen. Der Agent mit dem Regierungsauftrag. Ungerührt und unerschütterlich. Wahrheit bedeutete ihm nichts, und der Zweck heiligte seine Mittel. Immerhin hatte er wenigstens die Anständigkeit, kein Hehl daraus zu machen. Bei ihm wußte man, woran man war. Oder vielleicht doch nicht?
    Granforte? Mit ihm verhielt sich's wieder ganz anders. Er war Teil eines Systems. Teil von Orgagnas System der Privilegien, Bevorzugungen und Beförderungen …
    Ashleys Augen fielen zu, und der Schlaf entrückte ihn in eine Alptraumwelt, wo Rossana ihn vom Gipfel eines steilen Felsen herunter um Hilfe anflehte und dunkle Wogen über die Leiche eines Mannes rollten, der die Züge von Orgagna trug. Richard Ashley erwachte bei strahlendem Sonnenschein. Sein Körper war ausgekühlt und verkrampft, sein Abendanzug zerknittert, und auf seiner Zunge hatte er den widerlichen Geschmack von Alkohol und Zigaretten. Er hörte die gedämpften Geräusche des Personals auf den Korridoren und das Summen eines Staubsaugers.
    Vorsichtig erhob er sich, rieb den Schlaf aus den Augen, ging zum Fenster und riß die Vorhänge auf. Das grelle Sonnenlicht blendete ihn, und die fernen Laute der Badenden klangen wie Hohn auf seinen eigenen miserablen Zustand. Er warf einen Blick auf seine Uhr – sieben Uhr zwanzig. Noch zwei bis drei Stunden würde er totschlagen müssen, bis der Orgagna-Haushalt endlich fertig zum Aufbruch sein würde. Er zog sich aus und ging ins Bad. Im Spiegel musterte er sein Gesicht. Es war grau und fleckig vor Übermüdung. Tiefe Ringe lagen unter den Augen, und die Falten um Mund und Augen waren noch schärfer geworden. Auf seinem Kinn standen Stoppeln, und seine Schläfenhaare waren graumeliert. Eine unangenehme Mahnung, daß die Jugend vorüber war.
    Er schnitt eine Fratze und begann den Bart einzuseifen. Nach dem Rasieren rieb er sich mit Gesichtswasser ein und stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, daß die Farbe in seine Wangen zurückkehrte und die Haut sich unter der scharfen Flüssigkeit straffte. Ein Bad und ein leichtes Frühstück mit reichlich Kaffee würden ihn wieder auf die Beine bringen. Nicht ganz, freilich, denn da waren immer noch Granforte und Vittorio d'Orgagna, die Einfluß auf sein Leben beanspruchten. Auch ist ein Journalist ohne Story seiner Redaktion gegenüber, die die Spesen bezahlt, in einer nicht eben glücklichen Lage. Doch noch war er am Leben, während Enzo

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