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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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Sie von Anfang an gewarnt«, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme, »sich hier auf Dinge einzulassen, die Sie nicht verstehen. Ich nehme an, Sie verstehen sie jetzt schon besser. Aber Sie bewegen sich noch immer auf fremdem Boden. Sie sind hier in einem alten, vertrackten Land, wo nichts so klar und einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Sie müssen umdenken, Sie müssen in Paradoxen denken lernen. Nehmen Sie zum Beispiel diese Elena Carrese. Sie treffen sie als eine weltgewandte junge Römerin – und plötzlich flucht sie wie ein altes Bauernweib. Für ihre Familie – das heißt, wenn sie überhaupt eine Familie hat – ist sie ein Flittchen, weil sie ihre Tugend verloren hat, indem sie die Geliebte eines Herzogs wurde. Dennoch schluchzt sie hemmungslos vor Schmerz über den Tod dieses miesen Patrons, nur weil er ihr Bruder war. Sie fassen ihre Motive ins Auge und suchen sich eines aus, das Ihnen wahrscheinlich vorkommt, weil es zu ihrer Denkweise paßt: Eifersucht. Ich könnte Ihnen zwanzig andere nennen, die doppelt so stark sind. Die Italiener sind ein altes Volk, Ashley. Sie glauben an Dinge, die Ihnen völlig fremd sind. Ihre Traditionen mögen Ihnen lächerlich vorkommen, und doch sind sie den Leuten hier heilig. Wenn Sie sich das nicht klarmachen, können Sie leicht Ihren eigenen Irrtümern zum Opfer fallen.«
    »Gilt das alles auch für Orgagna?«
    »Mehr als für alle anderen«, antwortete George Harlequin ernsthaft. »Ich habe gelesen, was Sie über ihn geschrieben haben. Es ist alles wahr. Er ist eine Finanzhyäne übelster Sorte, ein skrupelloser Politiker und ein machtgieriger Abenteurer. Doch ist das nicht die ganze Wahrheit, einfach weil Sie nicht eine zweitausendjährige Geschichte in einen Satz pressen können. Ein Mann wie Orgagna läßt sich nicht mit Adjektiven erklären – und nicht mit einem Dutzend Ihrer Geschichten verdammen. Ich kann ihn auch nicht erklären. Sie können nur hoffen, daß er das selbst tun wird. Und dann …«
    Er brach ab, nach Worten suchend.
    »Und wenn er es tut, was ist dann?« drängte Ashley.
    »Dann, mein lieber Freund, werden Sie verstehen, warum ich Angst um Sie habe.«

7
    Nachdem Harlequin gegangen war, packte Ashley seine Koffer und stellte sie für den Hausdiener bereit. Er fuhr hinunter, bezahlte seine Rechnung und ging um die Ecke zum American Express in Sorrent, um die zweitausend Dollar abzuheben. Er wies seinen Paß vor, unterschrieb die Quittung, und der Angestellte zählte ihm zwanzig neue Einhundertdollarnoten auf den Tisch. Ashley zählte sie nach und verstaute sie in seiner Brieftasche. Dann trat er hinaus in den klaren Sonnenschein.
    Der Morgenverkehr flutete um die große Bronzestatue des heiligen Antonius, des Schutzpatrons der Stadt, der mit einem nachsichtigem Lächeln auf die bunt zusammengewürfelten Touristen herabsah, die seine Schutzbefohlenen den Sommer über ernährten und ihnen halfen, den Winter zu überstehen. Sie kamen aus aller Welt – die sonnengebräunten Mädchen in bunten Strandkleidern mit nackten Schultern, die stolz erhobenen Häupter von ausgefallenen Strohhüten gekrönt – die langbeinigen Jünglinge in kurzen Hosen und grellfarbigen Hemden – nüchterne Deutsche in beigefarbigen Anzügen mit plumpen Lederschuhen – schlampig angezogene Frauen aus der französischen Provinz – und aufgedonnerte römische Kavaliere auf der Jagd nach einer reichen Amerikanerin.
    Sie eilten zum Hafen, um das Morgenschiff nach Capri zu erreichen. Sie schrieben Postkarten auf den kleinen Tischen der Straßencafes. Sie liebäugelten mit den Spitzen und Einlegearbeiten in den Auslagen der Andenkenläden. Sie saßen bei der kleinen Rotunda unter den Orangenbäumen, tranken Kaffee und aßen Kuchen. Oder sie handelten mit Taxifahrern und Kutschern wegen eines Preisnachlasses für eine Fahrt nach Positano oder einen gemütlichen Ausflug nach Massa Lubrense.
    Kellner in gestreiften Jacken putzten die Marmorplatten der Bartische, Bauersfrauen klapperten mit hölzernen Sandalen daher, riesige Wäschebündel auf dem Kopf. Ein Polizist in grüner Uniform mit einer schwarzen Pistolentasche am Koppel blies in seine Pfeife und gestikulierte mit den Armen, vergeblich bestrebt, des übermächtigen Verkehrs Herr zu werden.
    Alles wirkte fröhlich, beiläufig und charmant – und Richard Ashley fühlte sich so weit weg davon wie der Mann im Mond.
    Er stand neben dem großen eisernen Tor, das in die Hotelgärten führte, und

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