Die Stunde des Fremden
seine Finger trommelten einen nüchternen Rhythmus auf den Tisch, »haben Sie eine gute Chance, Garofano auf seinem Weg zu folgen.«
»Welch glücklicher Gedanke!«
»Und das führt mich wieder zurück zu meiner Frage von gestern abend: Haben Sie die Photokopien oder haben Sie sie nicht? Sie müssen mir nicht antworten. Ich will weiter nichts, als Sie auf einen sehr einfachen Schluß aufmerksam machen: Wenn Sie sie nämlich nicht haben, sind Sie unschuldig, und dann brauchen Sie sie, um Ihr Leben zu retten. Wenn Sie erst mal bei Orgagna sind, können Sie sich nicht mehr rühren. Sie brauchen dann einen Verbündeten, der die Photokopien so schnell wie möglich herbeischafft. Ich biete meine Dienste dafür an. Wobei ich selbstverständlich davon ausgehe, daß Sie sie Garofano nicht abgenommen haben, nachdem Sie ihn umbrachten.« Er richtete einen kühlen, abschätzenden Blick auf Ashley, der immer noch bewegungslos auf das Meer starrte. »Sie trauen mir noch immer nicht, Ashley, wie?«
»Nein!« Es kam denkbar brüsk heraus, doch schien der kleine Engländer keinen Anstoß daran zu nehmen. Er grinste nur entwaffnend.
»Das ist der Kummer mit euch Amerikanern. Ihr versteht die Sprache nicht.«
»Wenn Sie das doppelzüngige Diplomatengeschwätz meinen, gebe ich Ihnen gern recht. Wir lieben Tatsachen, und wir lieben sie so einfach wie möglich.«
»Insbesondere, wenn ihr nicht mit diesen Tatsachen leben müßt, lieber Junge. Das ist ja unser Jammer hier in Europa: Wir haben uns so lange mit soviel Unerfreulichem abfinden müssen, daß wir eine besondere Technik entwickelt haben, es zu beschönigen oder zu verbergen.«
»Ich sehe nicht, was Ihnen das genützt hat.«
»Ich denke schon, daß es nützt. Das Leben kann verdammt langweilig werden, wenn man es in zweisilbigen Worten lebt.«
Ungeachtet seiner Katerstimmung und des Verdachts in seinem Herzen sah sich Ashley gezwungen, ihm recht zu geben. Beinahe gegen seinen Willen mußte er lachen.
»Da habe ich also die Pointe verpasst. Könnten Sie mich noch mal mit der Nase drauf stoßen?«
»Ganz einfach. Sie lassen sich nicht von Ehrlichkeit überzeugen. Nicht mal, wenn man sie in zweisilbige Worte kleidet.«
Ashley zögerte einen Augenblick, dann hob er resigniert die Schultern.
»Also schön, Harlequin. Dann will ich's Ihnen sagen. Ich habe die Photokopien nicht – und ich habe auch nicht die leiseste Ahnung, wo sie sein könnten.«
Harlequin musterte ihn mit nüchternen, nachdenklichen Augen.
»Sie haben mir ein Kompliment gemacht. Das werde ich nicht vergessen. Aber Sie beunruhigen mich.«
»Ich beunruhige mich selbst.«
»Den Mord an Garofano hat Orgagna ganz schön organisiert. Und er ist durchaus imstande, Ihnen den gleichen Dienst zu erweisen.«
»Ich glaube, er ist eher auf einen Handel aus.«
»Aber nur, weil er glaubt, daß Sie die Photokopien haben.«
Ashley beugte sich weit über den Tisch.
»Das haben Sie schon mal gesagt. Deswegen habe ich Ihnen auch nicht vertraut. Er muß ja schließlich wissen, daß ich sie nicht habe.«
Harlequin sah verwundert aus.
»Das verstehe ich nicht.«
»Von dem Streit mit Garofano an war Rossana jede Minute mit mir zusammen, bis ich ihn tot von der Straße aufhob und nach Sorrent brachte. Meinen Sie etwa, sie hätte Orgagna nicht über jede Sekunde dieser zwei Stunden Bericht erstattet – ausgenommen vielleicht die intimeren Szenen auf dem Berg?«
George Harlequin sah ihn ehrlich erstaunt an.
»Das glauben Sie?«
»Könnten Sie mir erklären, warum ich's nicht glauben sollte?«
»Sie armer, unglücklicher Tor«, sagte Harlequin leise, »wissen Sie denn nicht, daß sie Sie liebt?«
Ashley schüttelte den Kopf und starrte düster auf seine sonnengebräunten Handrücken.
»Sie hat mich verkauft, Harlequin. Zweimal hat sie mich für denselben Mann verkauft. Ich könnte ihr nie wieder trauen.«
Harlequin zuckte die Schultern.
»Es ist natürlich Ihre Angelegenheit. Auch kenne ich die Dame nicht allzu gut. Sie haben einen Freund in Orgagnas Haushalt bitter nötig.«
»Ich hoffe, einen zu haben«, sagte Ashley und erzählte ihm von Elena Carrese, die ihn als Mörder ihres Bruders verflucht hatte.
Harlequin stieß einen leisen, erstaunten Pfiff aus, setzte sich gerade und hörte aufmerksam zu. Als Ashley geendet hatte, stand er auf, ging zum Geländer und stand dort eine lange Weile, den Blick auf das glitzernde Wasser gerichtet. Dann setzte er sich wieder und beugte sich über den Tisch.
»Ich habe
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