Die Stunde des Fremden
ungesetzlich. Doch wollen Sie einen Fehler damit rechtfertigen, daß er nicht gegen das Gesetz verstößt?
Schließlich fragen Sie, was es mit meinen Konten in Amerika auf sich hat? Für jede Maschine, für jedes Werkzeug, für jeden Cent Material, das ich zur Aufrechterhaltung meiner Fabrikbetriebe benötige, muß ich zu irgendeinem Bürokraten in Rom gehen, der meine Dollar-Anforderungen mit einem Federstrich kurzerhand zu halbieren pflegt. Auf seiner Seite ist das Gesetz. Aber ich sage, daß Menschlichkeit und Weisheit auf meiner Seite sind!« Orgagna ließ sich auf seinen Stuhl sinken und strich müde mit seiner schlanken Hand über seine Stirn. »Das ist meine Verteidigung, Ashley. Jetzt wissen Sie genug, um ein Urteil fällen zu können. Sollten Sie noch irgendeine Frage haben, so will ich gerne versuchen, sie ehrlich zu beantworten.«
»Nur eine«, sagte Ashley.
»Bitte?«
»Warum haben Sie Garofano umbringen lassen?«
»Das habe ich nicht getan.«
Ashley war beinahe sicher, daß er die Wahrheit sprach. Lange Zeit sahen sie einander an, Zweifel, Unsicherheit, Misstrauen und Unruhe in den Augen.
Schließlich sprach Ashley, und seine Worte waren wie Steine, die in ein stilles Wasser fielen:
»Ich habe Ihre Verteidigung gehört – mit Interesse und nicht ohne ein gewisses Mitgefühl. Doch kann ich noch kein Urteil fällen. Erst muß ich wissen: Wer brachte Garofano um? Wer spionierte mir und Rossana nach, und wer ließ ihn unter die Räder meines Wagens stoßen?«
»Das könnte ich Ihnen sagen.«
Orgagnas Gesicht war im Schatten, und Ashley hatte den verrückten Eindruck, daß seine Stimme körperlos war, getrennt und entrückt von der Figur in dem Stuhl ihm gegenüber.
»Sie meinen, Sie wollen es nicht?«
»Wenn Ihnen das besser gefällt.«
»Dann werde ich es Ihnen sagen: Es war Ihr Haushofmeister Carlo Carrese!«
Die Gestalt ihm gegenüber rührte sich nicht. Nach einer langen Pause fragte die entrückte Stimme:
»Wieso können Sie das sagen. Herr Ashley?«
»Er versuchte heute nachmittag, mich zu erstechen.«
Ein langer Atemzug des Erstaunens war die Antwort auf diese Eröffnung. Orgagna erhob sich und trat ans Fenster. Ashley konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, doch die Frage kam klar und deutlich:
»Würden Sie mir sagen, wie und wo das geschah?«
Ashley berichtete es ihm. Die ganze Zeit stand Orgagna am Fenster und starrte in die Nacht, eine dunkle, unbewegliche Gestalt gegen das Mondlicht und die Lichtpunkte der fernen Insel. Als Ashley endete, wandte er sich ihm zu. Er lächelte jetzt, ein bißchen verschlagen, und seine dunklen, feinen Züge zeigten Spuren von leisem Überdruss.
»Wir sollten noch einen Kognak trinken, was meinen Sie?« fragte er.
»Unbedingt.« Ashley stand auf und trat neben Orgagna.
»Salute!«
»Salute!«
Orgagna setzte sein Glas auf den Tisch und trocknete sich Gesicht und Hände mit seinem seidenen Taschentuch. Sie waren tatsächlich feucht, doch war seine Stimme noch immer beherrscht, ruhig und vernünftig.
»Ich glaube, ich sollte Ihnen ein wenig von Carlo Carrese erzählen.«
»Ja?«
»Er war, wie er Ihnen schon sagte, meines Vaters Haushofmeister. Es ist ein altes Familiengerücht, daß auch in seinen Adern Orgagnablut fließt. Und wenn man an unsere Geschichte denkt …«, Orgagna lächelte müde, »… dürfte es durchaus möglich sein. Aber sei dem, wie ihm wolle, uns haben von jeher starke Bande verbunden. Er war stets ein guter und treuer Haushofmeister, und als mein Vater starb, schenkte er mir alle Liebe, die seinem eigenen Sohn gehört haben würde, falls er einen eigenen Sohn gehabt hätte.«
»Aber er hatte doch einen«, rief Ashley. »Enzo Garofano!«
Orgagna musterte ihn eine Weile, dann entspannten sich seine Züge in einem Lächeln, und er schüttelte den Kopf. »Nein! Garofano war nicht sein Sohn. Garofano war der Sohn seiner Frau und eines anderen Mannes. Hätten Sie ein bißchen mehr über uns gewußt, dann hätten Sie es schon aus dem Namen schließen müssen. Es ist überhaupt kein Familienname. Es ist der Name einer Blume: Garofano heißt Nelke. Er wurde im Frühling geboren, verstehen Sie? In der Jahreszeit der Nelken. Und weil sein Vater sie schon lange verlassen hatte, gab seine Mutter ihm diesen Namen.«
»Wo war Carlo die ganze Zeit?«
»In Mailand mit meinem Vater. Mein Vater gründete damals unser Unternehmen.«
»Oh!«
»Als Carlo heimkam, folgte er der traditionellen Gewohnheit unseres Volkes – die
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