Die Stunde des Fremden
Zeugenstand?«
Orgagna nickte.
»Auch die Verteidigung hat das Recht auf Kreuzverhör«, antwortete der Herzog.
»Das ist nur fair.«
Ashley nahm eine Zigarette und klopfte sie nachdenklich auf seinen Daumennagel, dann zündete er sie an und sah den Rauchringen nach, die zur Decke stiegen Zögernd am Anfang, doch langsam an Überzeugungskraft gewinnend, begann er zu sprechen:
»Sie fragen nach meinen Motiven, Orgagna. Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß sie weniger verwickelt und ehrenhafter als die von irgend jemand anders wären. Geld? Ja. Ich werde für diese Story soviel bekommen, daß ich ein oder zwei Jahre bequem davon leben kann. Außerdem wird man mich fortan zur Spitzenklasse in meinem Beruf rechnen müssen, und das wird mir auch in Zukunft mehr Geld einbringen. Eitelkeit? Ja, auch das. Ohne Stolz können Sie keinen Beruf haben. Eifersucht auf Sie und Rossana? Nein. Ich habe sie schon lange verloren. Und ich war niemals bitter genug, um eine Rache daraus zumachen.«
»Aber Sie lieben sie noch immer. Ebenso wie Rossana Sie liebt?«
»Die Frage gehört nicht zur Sache«, antwortete Ashley.
»Dann streichen Sie sie aus dem Protokoll«, sagte Orgagna kühl. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Jeder Beruf hat seine Zuhälter und Profitjäger. Es gibt auch Journalisten, große und kleine, die sich in den Tempeln der Politik und Auflage prostituieren. Doch glauben die meisten, daß es ihre Aufgabe sei, die Wahrheit zu verbreiten. Oft können sie nicht die ganze Wahrheit mitteilen, und doch glauben sie stets an das Recht der Menschen, die ganze Wahrheit zu erfahren. Tyrannei blüht in dunklen Verliesen, Korruption lebt hinter verschlossenen Türen. Und wenn ein Kind an Tuberkulose stirbt, wie ich es in Neapel gesehen habe, dann geschieht das, weil die Wahrheit hintangehalten oder zu spät verbreitet wurde. Darum werde ich diese Story veröffentlichen, Orgagna. Weil das Volk ein Recht darauf hat, Sie kennen zu lernen, bevor es bei den Wahlen seine Zukunft in Ihre Hände legt.«
Die Asche fiel von seiner Zigarette auf den Teppich. Er machte eine kleine, entschuldigende Geste, und drückte den Stummel in einem Aschenbecher aus.
»Das ist das Motiv, Orgagna, so klar, wie ich es machen kann. Ich gestehe auch die anderen, aber ich glaube, daß dieses das wirkliche ist und das stärkste von allen. Wenn ich das nicht glauben würde, dann würde ich Ihnen hier und jetzt auf der Stelle eine Riesensumme abpressen, Rossana mitnehmen, mit der ersten Maschine von Rom abfliegen und fortan in Kalifornien Orangen anbauen.«
»Vielleicht ist es gar nicht so teuer«, meinte Orgagna glatt. »Wieviel wollen Sie?«
»Nichts zu machen«, sagte Ashley.
»Verkaufen Sie mir die Photokopien und drucken Sie den Rest!«
»Nein.«
»Wollen Sie es nicht ein oder zwei Tage überlegen?«
»Es wird nichts nützen.«
Orgagna musterte ihn mit einem dünnen Lächeln.
»Weisheit ist eine langsam wachsende Pflanze, mein Freund. Und ich habe gelernt, geduldig zu sein. Überdenken Sie es. Schlafen Sie darüber.« Er strecke die Hand aus: »Gute Nacht, Ashley. Und schöne Träume.«
10
Das Mondlicht flutete durch die offenen Fenster seines Schlafzimmers. Richard Ashley lag hellwach auf dem großen Himmelbett und ließ in Gedanken den ersten Tag in der Villa Orgagna Revue passieren.
Es war eine Rechnung mit Gewinn und Verlust. Der Gewinn lag in den neuen Informationen, die er gesammelt hatte – über die Verbindung des Toten zur Familie Orgagna, die Verstoßung Elenas durch den Herzog, ihre Eifersucht und Verzweiflung, die Erkenntnis, daß Tullio Riccioli käuflich war und daß Rossana ihn nicht verraten, sondern ihren Mann belogen hatte, um ihn zu schützen. Der Hauptgewinn lag in der Gewissheit, daß Orgagna ihn genug fürchtete, um ihm einen Handel vorzuschlagen.
Der Verlust schien weniger offensichtlich, jedoch ernsthafterer Natur. Es war nun zwischen ihm und Orgagna zum offenen Bruch gekommen. Der Herzog wußte genauso gut wie er, daß der Waffenstillstand nicht endlos währen konnte, und daß an seinem Ende einer von ihnen vernichtet werden würde.
Ashleys Sicherheit hing von einer Lüge ab. Orgagna glaubte, daß er die Photokopien besaß. Mit so unsicherem Boden unter den Füßen konnte der Amerikaner nicht lange kämpfen. Er mußte die Photokopien finden oder sich aus Orgagnas Händen befreien.
Der einzige Mensch, der ihm einen Hinweis geben konnte, wo sich die Photokopien befanden, war Elena Carrese, doch fürchtete
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