Die Stunde des Fremden
schaltete das Licht ein. Es blendete ihn. Blinzelnd sah er sich um. Der Raum war leer. Schwer und unbeweglich hingen die Vorhänge vor den Fenstern. Sein Blick schweifte zur Tür.
Auf dem Boden vor der Tür lag ein brauner Umschlag. Das Geräusch, das er gehört hatte, kam von dem Umschlag, als man ihn durch die Spalte ins Zimmer schob. Ashley sprang aus dem Bett, hob ihn auf und zog den Inhalt heraus – sechs Photokopien von Orgagnabriefen!
Lange starrte er darauf, ohne sein Glück zu begreifen. Die Reportage seines Lebens war komplett. Mit den Beweisen, die er hier in der Villa Orgagna gesammelt hatte, konnte er Inspektor Granforte von seiner eigenen Unschuld überzeugen – und davon, daß Orgagna in Garofanos Tod verwickelt war. Sollte der Inspektor Schwierigkeiten machen, konnte er verlangen, bis zur Ankunft des amerikanischen Konsuls in Haft genommen zu werden. Morgen würde der Tag seines Triumphes sein. Morgen …
Ihm fiel ein, daß noch Stunden um Stunden vergehen würden, bis er endlich mit Sorrent in Verbindung treten konnte. Er mußte ein sicheres Versteck für die Photokopien finden. Sie bei sich zu tragen, würde ein unnötiges Risiko bedeuten.
Er verriegelte die Tür, damit niemand ihn überraschen konnte. Er ging zum Fenster, machte es sorgfältig zu und überzeugte sich, daß die Vorhänge dicht schlossen. Dann sah er sich um. Es standen genug Möbel für ein kleines Hotel herum, doch war nichts vor den saubermachenden Mädchen sicher, und erst recht nichts vor dem neugierigen Personal, das sich selbstverständlich für alles interessierte, was dem fremden Besucher gehörte. Das klassische Versteck war natürlich die Matratze, doch würde eine offene Naht im Überzug sichtbar sein, und es war durchaus möglich, daß jede ungewöhnliche Beobachtung dem Haushofmeister Carlo Carrese berichtet wurde.
Ashleys Blick fiel auf eine alte florentinische Truhe aus reich geschnitztem, wurmstichigem Holz. Sie stand flach auf dem Boden. Es sah nicht so aus, als wäre sie jemals von ihrem Platz gerückt worden. Er ging zu ihr hinüber, bückte sich und drückte mit der Schulter gegen eine Ecke. Die Truhe war schwer wie Blei, doch gelang es ihm, sie um Fingerbreite aufzuheben. Die Fliesen darunter waren staubig. Er schob den Umschlag in den Spalt und ließ die Truhe wie der auf den Boden sinken.
Geschafft! Die Photokopien waren sicher verborgen.
Jetzt konnte er sich der Frage zuwenden, von wem sie gekommen waren und warum man sie ihm zugespielt hatte.
Die Antwort lag auf der Hand: Elena Carrese. Sie hatte sich mit ihm verbündet und ihm die Kopien als Beweis ihres guten Willens überlassen. Mehr als das, die Sicherheit der Dokumente wurde selbstverständlich von den Folgen des Zwischenfalls in der Orangenlichtung bedroht. Ihr Vater würde Elena der Konspiration mit dem Fremden verdächtigen. Orgagna würde die Konspiration als sicher annehmen. Grund genug für Elena, die Photokopien so bald wie möglich loszuwerden.
Doch wie waren sie überhaupt in ihren Besitz gelangt? Auch das war lächerlich einfach, jedenfalls seit er mehr über ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Garofano wußte. Bestimmt war der Informant frühzeitig ins Hotel gekommen und hatte die Photokopien Elena bis zum Abschluß des Geschäfts zu treuen Händen übergeben.
Als sich das Geschäft zerschlug und er das Hotel verließ, brauchte er sich wegen ihrer Sicherheit keine Sorgen zu machen. Er konnte jederzeit zurückkommen und sie abholen. Doch war er nie zurückgekommen. Warum nicht? Ashley wußte, daß die Antwort auf diese Frage das letzte Glied in seiner Beweiskette gegen Orgagna und Carrese war. Was war mit Garofano geschehen – zwischen dem Zeitpunkt, an dem er das Hotel verließ, bis zu dem Augenblick, wo man ihn unter die Räder des heranrasenden Wagens stieß?
Granforte würde die Antwort wahrscheinlich finden – falls er seine Beamten entsprechend ansetzte. Ashley mußte lächeln, als er sich den mondgesichtigen Kriminalinspektor vorstellte, wie er angesichts des peinlichen Beweismaterials den Verlust seiner schönen Beförderungsaussichten bedauerte.
Schließlich sank Ashley in einen unruhigen Schlaf. Ein Alptraum versetzte ihn in eine sonnendurchglühte Wüste, in der er Rossanas Hilferufe hörte, doch blieb sie unsichtbar, wohin er seine Blicke auch wenden mochte. Und er wußte auch, warum: weil er sie für immer verloren hatte.
Ashley erwachte knapp nach Sonnenaufgang. Alle Muskeln schmerzten ihn. Seine Haut war
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