Die Stunde des Jägers - EXOCET
»So etwas brächte selbst Murray nicht fertig. Bei dir war das etwas anderes – du bist ein Außenseiter – , aber mich würde niemand verraten.«
Sie drehte die erste Karte um. Es war der Turm. Von dem Gebäude, in das der Blitz einschlug, stürzten zwei Menschen ab. »Der einzelne leidet durch die Mächte des Schicksals, die sich auf der Welt auswirken«, kommentierte Morag.
»Das trifft auf mich zu. Eindeutig.« Harry Cussane mußte wider Willen lachen.
Susan Calder war dreiundzwanzig, zierlich, und sah in ihrer
marineblauen Polizeiuniform und der Mütze mit dem
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schwarzweiß karierten Band unleugbar attraktiv aus. Eigentlich hatte sie Lehrerin werden wollen, nach drei Semestern aber genug gehabt, sich bei der Londoner Polizei beworben und war angenommen worden. Nun gehörte sie schon über ein Jahr dazu. Sie stand auf dem Cavendish Square neben dem Polizeiwagen, bot einen angenehmen Anblick, und Devlins Laune wurde sofort besser. Als er die Stufen herunterkam, reinigte sie gerade die Windschutzscheibe.
»Einen schönen guten Tag. Wie angenehm, Damenbegleitung zu bekommen.«
Sie sah sich den dunklen Burberry an, den verwegen sitzenden Filzhut und wollte ihm schon eine patzige Antwort geben, beherrschte sich aber. »Sind Sie etwa Professor Devlin?«
»Genau der. Und Sie?«
»Polizistin Susan Calder, Sir.«
»Wissen Sie, daß Sie bis morgen mir gehören?«
»Jawohl, Sir. Die Hotelzimmer in Canterbury sind gebucht.«
»Da werden sie sich in der Wache aber die Mäuler zerreißen. Auf geht’s.« Er öffnete die Hecktür und stieg ein. Sie glitt hinters Steuer, fuhr los, und Devlin lehnte sich zurück, beobachtete sie. »Hat man Ihnen erzählt, worum es geht?«
»Ich weiß nur gerade, daß Sie zu Gruppe Vier gehören, Sir.«
»Und die wäre?«
»Terrorismus-Abwehr; das nachrichtendienstliche Gegenstück zu Scotland Yards Anti-Terror-Einheiten.«
»Stimmt, Gruppe Vier kann es sich erlauben, Leute wie mich einzusetzen.« Er zog die Stirn kraus. »Im Lauf der nächsten sechzehn Stunden kommt es zur Entscheidung in dieser Affäre, so oder so, und Sie werden mich auf Schritt und Tritt begleiten.«
»Wie Sie meinen, Sir.«
»Da haben Sie es verdient, eingeweiht zu werden, finde ich.«
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»Dürfen Sie mir das verraten, Sir?« fragte Sie gelassen.
»Nein, aber ich will es trotzdem tun«, meinte er und begann zu reden, legte ihr die ganze Angelegenheit von Anfang an dar und klärte sie ganz speziell über Harry Cussane auf.
»Eine erstaunliche Geschichte«, meinte sie, als er geendet hatte.
»Das ist noch milde ausgedrückt.«
»Nur noch eine Kleinigkeit, Sir.«
»Was wäre das?«
»Mein älterer Bruder wurde vor drei Jahren, als er in Belfast als Leutnant der Marineinfanterie diente, erschossen. Ein Hekkenschütze traf ihn vom Dach der Divis-Fiats.«
»Soll das bedeuten, daß Sie etwas gegen mich haben?«
»Durchaus nicht, Sir. Ich wollte Sie nur informieren«, erklä rte sie knapp, bog in die Hauptstraße ein und fuhr in Richtung Themse.
Cussane und Morag standen in einer stillen Straße am Rand von Wapping und sahen dem Laster nach, der um die Ecke bog und verschwand.
»Armer Earl Jackson«, meinte Cussane. »Wetten, daß er sich davonmacht, so rasch wie möglich? Wo wohnt deine Großmutter?«
»Am Cork-Street-Kai. Ich war seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr hier und weiß leider nicht genau, wo es langgeht.«
»Wir finden ihn schon.«
Sie taten das Naheliegende und hielten auf den Fluß zu. Sein Arm schmerzte wieder, und er hatte Kopfweh, ließ sich aber vor dem Mädchen nichts anmerken. Sie erreichten an einer Straßenecke ein Lebensmittelgeschäft, das Morag betrat, um sich zu erkundigen.
Sie kam rasch wieder heraus. »Es ist nicht mehr weit, nur noch zwei Straßen.«
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Sie gingen zur nächsten Ecke und sahen von dort aus den Fluß und hundert Meter weiter ein Schild an einer Hauswand: Cork Street Wharf.
»Gut, dann zieh mal los«, sagte Cussane. »Ich bleibe erst einmal zurück, nur für den Fall, daß sie Besuch hat.«
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie eilte die Straße entlang, und Cussane trat durch eine zerbrochene Tür in einen halb mit Schutt gefüllten Durchgang und wartete. Er konnte den Fluß riechen. Es kamen jedoch kaum noch Schiffe. Der Hafen, einst der bedeutendste der Welt, war nur noch ein Friedhof für rostende Kräne, die wie urzeitliche Ungeheuer gen Himmel
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