Die Stunde des Jägers - EXOCET
auftaucht. Ich melde mich wieder. Bleib also am Apparat.«
Er schenkte sich einen Whiskey ein und stellte sich vors Feuer. Sonderbar, er sah in ihr immer noch das dürre kleine Mädchen im Regen.
Er hob sein Glas und sagte leise: »Auf dein Wohl, Tanja Woroninowa. Mal sehen, wie gut du den Dreckskerlen einheizen kannst.«
Binnen fünf Minuten hatte Türkin festgestellt, daß etwas nicht stimmte, die Garderobe betreten und die verriegelte To ilettentür entdeckt. Als sein Klopfen nur mit Schweigen beantwortet wurde, brach er die Tür auf. Die leere Toilette, das offene Fenster erklärten alles. Er kletterte hinaus, ließ sich in den Hof fallen und ging zur Rue de Madrid. Keine Spur von ihr. Er lief schnell um das Konservatorium herum und betrat es durch
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den Haupteingang wieder, schwarzen Haß in seinem Herzen. Seine Karriere war ruiniert, sein Leben verpfuscht, und nur wegen diesem verdammten Frauenzimmer.
Below hatte ein frisches Glas Champagner in der Hand und war in ein Gespräch mit dem Kultusminister vertieft, als Türkin ihm auf die Schulter klopfte. »Tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Oberst, aber darf ich Sie kurz sprechen?« Er führte ihn in die nächste Ecke und brachte ihm die Hiobsbotschaft bei.
Nikolai Below hatte schon immer festgestellt, daß er unter widrigen Umständen sein Bestes zu geben imstande war. Überflüssiges Lamentieren lag ihm nicht. Nun saß er in der Botschaft an seinem Schreibtisch, Natascha Rubenowa stand ihm gegenüber. Schepilow und Türkin waren an der Tür.
»Ich möchte Sie noch einmal fragen, Genossin«, sagte er, »hat sie bei Ihnen irgend etwas verlauten lassen? Von allen mußten Sie doch am ehesten eine Vorstellung von ihren Absichten gehabt haben.«
Sie war erschüttert und heiter zugleich, was ihr das Lügen erleichterte. »Ich bin genauso ratlos wie Sie, Genosse Oberst.«
Er seufzte und nickte Türkin zu, der hinter sie trat und sie auf einen Stuhl stieß. Er zog den rechten Handschuh aus und faßte nach ihrem Hals, quetschte einen Nerv, so daß sie von einer Welle entsetzlicher Schmerzen durchzuckt wurde.
»Ich frage Sie noch einmal«, sagte Below sanft. »Seien Sie bitte vernünftig. Ich kann so etwas nicht ausstehen.«
Natascha, erfüllt von Schmerz, Wut und einem Gefühl der Erniedrigung, war so tapfer wie noch nie in ihrem Leben. »Bitte, Genosse! Ich schwöre, sie hat mir nichts gesagt. Nichts!«
Sie schrie aufs neue auf, als Türkins Finger den Nerv traf. Below winkte ab. »Das reicht. Ich bin überzeugt, daß sie die Wahrheit spricht. Warum sollte sie auch lügen?«
Sie saß zusammengesunken da und weinte. »Was nun, Genosse?« fragte Türkin.
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»Wir überwachen alle Flughäfen. Ausgeschlossen, daß sie bisher eine Maschine erwischt hat.«
»Und Calais und Boulogne?«
»Dorthin sind unsere Leute bereits mit dem Wagen unterwegs. Beide Häfen kann sie frühestens mit einer Morgenfähre verlassen, und ehe die auslaufen, sind unsere Männer da.«
Schepilow, der sich selten zu Wort meldete, sagte leise: »Verzeihung, Genosse Oberst, aber haben Sie die Möglichkeit erwogen, daß sie in der britischen Botschaft um Asyl ersucht hat?«
»Aber sicher«, gab Below zurück. »Zufällig haben wir aus naheliegenden Gründen seit dem vergangenen Juni am Botschaftseingang ein Überwachungssystem, das nachts eingeschaltet wird. Dort ist sie noch nicht aufgetaucht, aber wenn sie das tut…« Er zuckte die Achseln.
Die Tür ging auf, Irana Wronski kam hereingeeilt. »Lubow direkt aus Dublin für Sie, Genosse. Sehr dringend. Der Funkraum hat das Gespräch für Sie auf Leitung eins durchgestellt.«
Below hob ab und lauschte. Als er wieder auflegte, lächelte er. »So weit, so gut. Sie sitzt im Nachtzug nach Rennes. Sehen wir uns einmal die Karte an.« Er machte eine Kopfbewegung zu Natascha hin. »Bringen Sie sie raus, Irana.«
»Warum nach Rennes?« fragte Türkin.
Below fand die Stadt auf der Wandkarte. »Um dort nach St. Malo umzusteigen. Anschließend will sie ein Tragflügelboot zur Kanalinsel Jersey nehmen.«
»Ist das britisches Territorium?«
»Ja. Jersey, bester Türkin, mag klein sein, aber möglicherweise ist es das bedeutendste Offshore-Finanzzentrum der Welt. Die Insel verfügt über einen vorzüglichen Flughafen, von dem aus täglich mehrere Flüge nach London und vielen anderen Städten abgehen.«
»Gut«, meinte Türkin. »Wir müssen
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