Die Stunde des Jägers - EXOCET
Zeit, aber er hatte jetzt nur noch sechsunddreißig Stunden durchzustehen. Morgen früh landete der Heilige Vater in Gatwick. Und tags darauf sollte er in Canterbury eintreffen.
Als der Zug rascher über die Schienen rollte, lehnte er sich
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zurück, den gesunden Arm um das Mädchen geschlungen, und schlummerte ein.
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Morag wachte mit einem Ruck auf. Der Zug schien jäh abgebremst zu werden. Sie fuhren über eine Art Nebengleis. Hin und wieder fiel Lampenlicht durch die Latten und ließ Cussanes Gesicht in der Dunkelheit sichtbar werden. Er schlief, seine Miene war ausdruckslos.
Sie berührte sanft seine Stirn; sie war schweißnaß. Er stöhnte, drehte sich zur Seite, und sie sah, daß er die Stetschkin gepackt hielt.
Sie fror, stellte den Kragen ihrer Jacke hoch, steckte die Hände in die Taschen und beobachtete ihn. Sie war ein einfaches Mädchen, trotz ihres Vorlebens unkompliziert, aber mit flinkem Geist und gesundem Menschenverstand gesegnet.
Einem Menschen wie Cussane war sie noch nie begegnet. Es war nicht nur die Waffe in seiner Hand, die schnelle, kalte Gewalttätigkeit des Mannes. Angst hatte sie keine vor ihm. Was immer er auch sein mochte, grausam war er nicht. Am bedeutendsten fand sie, daß er ihr geholfen hatte, denn an so etwas war sie nicht gewöhnt. Selbst ihr Großvater hatte sie nur mit Mühe vor Murrays Brutalität schützen können. Cussane hatte sie gerettet, und sie war reif genug, um zu verstehen, was ihr dadurch erspart geblieben war. Daß auch sie Cussane geholfen hatte, kam ihr schlicht nicht in den Sinn. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei.
Wieder ruckte der Waggon, Cussane schlug die Augen auf, drehte sich rasch um, ging auf ein Knie und schaute auf die Armbanduhr »Halb zwei. Ich muß lange geschlafen haben.«
»Hast du auch.«
Er spähte durch einen Ritz zwischen den Latten und nickte.
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»Wir fahren bestimmt in den Güterbahnhof von Penrith ein. Wo ist meine Tasche?«
Sie stieß sie zu ihm hinüber. Er kramte darin herum, fand den Verbandskasten und verpaßte sich eine Morphiuminjektion.
»Wie geht’s?« fragte sie.
»Bestens«, erwiderte er. »Keine Beschwerden. Die Spritze war nur sicherheitshalber.«
Er log, denn der Schmerz war beim Aufwachen sehr real gewesen. Er zog die Schiebetür auf, schaute hinaus, und ein Schild, auf dem »Penrith« stand, tauchte in der Dunkelheit auf. »Hab ich’s doch gewußt«, meinte er.
»Steigen wir hier aus?«
»Wer weiß, ob der Zug überhaupt weiterfährt, und bis zur Autobahn ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß.«
»Und was dann?«
»Dort gibt es eine Raststätte, ein Selbstbedienungsrestaurant, parkende Autos, Laster. Wer weiß?« Die Schmerzen hatten sich wieder gelegt, er brachte ein Lächeln zustande. »Unendlich viele Möglichkeiten. So, jetzt gibst du mir die Hand, wartest, bis der Zug fast zum Stehen gekommen ist, und springst dann ab.«
Da der Fußmarsch länger wurde, als Cussane angenommen hatte, war es schon drei Uhr, als sie den Parkplatz der nächsten Raststätte an der Autobahn M 6 erreichten und auf das Selbstbedienungsrestaurant zuhielten. Zwei Personenwagen kamen über die Ausfahrt hereingerollt, dann ein Lkw, ein so gewaltiger Sattelschlepper, daß Cussane den Streifenwagen dahinter erst im letzten Augenblick entdeckte. Er zog Morag hinter einen Kastenwagen in Deckung. Das Polizeifahrzeug hielt an, das Blaulicht auf dem Dach kreiste träge.
»Was machen wir jetzt?« flüsterte sie.
»Abwarten.«
Der Fahrer blieb am Steuer sitzen, der andere Polizist stieg
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aus und ging ins Restaurant. Durch die großen Scheiben konnten sie ihn deutlich erkennen. Drinnen saßen an den Tischen verteilt zwanzig bis dreißig Leute. Der Polizist schaute sich genau um und kam dann wieder heraus, stieg in den Streifenwagen und sprach beim Anfahren ins Mikrophon des Funkgeräts.
»Die waren hinter uns her«, sagte Morag.
»Ist doch klar.« Er nahm ihr die Schottenmütze vom Kopf und stopfte sie in den nächstverfügbaren Abfalleimer. »So, das ist besser. Das Ding machte ja Reklame für uns.« Er wühlte in seiner Tasche und fand eine Fünf-Pfund-Note, die er ihr gab. »In diesen Restaurants gibt es auch Mahlzeiten zum Mitnehmen. Geh Tee und Sandwiches holen. Ich warte hier. Das ist sicherer.«
Sie ging die Rampe hinauf und betrat das Restaurant. Er sah, wie sie am Ende der Theke zögerte, dann nach einem Tablett griff. Er entdeckte in der
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