Die Stunde des Jägers - EXOCET
Nähe eine Bank an einer niedrigen Mauer, halb verdeckt von einem großen Kastenwagen. Er setzte sich, steckte eine Zigarette an und wartete, dachte an Morag Filay.
Seltsam, wie gut es tat, an sie zu denken. Mit dem gewohnheitsmäßigen Selbstzweifel des Priesters kam ihm der ironische Gedanke, daß das nicht recht war. Schließlich war sie nur ein Kind. Er hatte zwanzig Jahre lang im Zölibat gelebt und war völlig problemlos ohne Frauen ausgekommen. Wie absurd es doch wäre, sich am Ende noch in eine sechzehnjährige Zigeunerin zu verlieben!
Sie kam mit einem Kunststofftablett hinter dem Kastenwagen hervor und stellte es auf die Bank. »Tee, Schinkenbrote, und was sagst du dazu? Wir stehen in der Zeitung. Am Eingang werden welche verkauft, ich habe eine mitgebracht.«
Er schlürfte langsam den kochend heißen Tee aus dem Kunststoffbecher, schlug die Zeitung auf den Knien auf und las sie in dem schwachen Licht, das vom Restaurant auf den Park
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platz fiel. Es handelte sich um eine Lokalzeitung, die am Vorabend in Carlisle herausgekommen war. Cussanes Bild prangte auf der ersten Seite, daneben eine Aufnahme von Morag.
»Da siehst du aber jünger aus«, bemerkte er.
»Den Schnappschuß machte meine Mutter letztes Jahr. Opa hatte das Photo in seinem Wohnwagen an der Wand hängen. Sie müssen ihm das Bild abgenommen haben. Freiwillig hätte er es nie herausgegeben.«
»Wenn das gestern abend in den Lokalblättern stand, werden es alle überregionalen Zeitungen heute früh in der ersten Ausgabe bringen«, sagte er.
Ein bedrückendes Schweigen. Er zündete sich erneut eine Zigarette an und rauchte sie wortlos.
»Du wirst mich doch nicht etwa im Stich lassen?« fragte sie.
Er lächelte milde. »Für dein Alter hast du einen erstaunlichen Durchblick. Ja, wir müssen uns trennen. Es bleibt uns keine andere Wahl.«
»Brauchst du mir gar nicht erst zu erklären.«
Er tat es trotzdem. »Ein Bild in der Zeitung sagt den meisten Menschen nichts. Auffällig ist nur das Ungewöhnliche, wir beide zusammen zum Beispiel. Allein hast du eine gute Cha nce, dein Ziel zu erreichen. Hast du das Geld noch, das ich dir gegeben habe?«
»Ja.«
»Gut, dann geh ins Restaurant, setz dich ins Warme und warte. Die Reisebusse halten hier an. Das weiß ich genau, weil ich kürzlich in einem saß, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Du solltest ohne Schwierigkeiten einen nach Birmingham erwischen. Von dort aus hast du Anschluß nach London.«
»Und du?«
»Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Wenn sie dich in die Finger kriegen, erzählst du ihnen, ich hätte dich gezwungen, mir zu helfen. Das werden dir so viele Leute abnehmen,
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daß es zur Wahrheit wird.« Er hob seine Tasche auf und legte ihr die Hand an die Wange. »Du bist ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Laß dich nie wieder erniedrigen. Versprichst du mir das?«
»Ja.« Sie würgte, hob den Kopf, gab ihm einen Kuß auf die Wange, drehte sich dann um und rannte fort.
In der harten Schule ihres Lebens hatte sie gelernt, sich die Tränen zu verkneifen, aber ihre Augen brannten, als sie das Restaurant betrat. Sie drängte sich an einem Tisch vorbei. Eine Hand ergriff sie am Ärmel, sie blieb stehen und schaute auf zwei Jugendliche hinab, harte, bösartig aussehende Typen in schwarzer Lederkluft und mit kurzgeschorenem Haar. Der junge Mann, der sie am Ärmel festhielt, war blond und hatte ein Eisernes Kreuz auf der Brust.
»Na, wo hängt’s denn, Herzchen? Fahr doch mal auf meiner Maschine mit, dann geht’s dir gleich wieder astrein.«
Sie riß sich los, empfand nicht einmal Zorn, besorgte sich eine Tasse Tee und setzte sich an einen Tisch, schloß die Hände um die wohltuende Wärme. Er war in ihr Leben gekommen, wieder verschwunden, und von nun an würde alles anders sein. Sie begann zu weinen, große, bittere Tränen, zum ersten Mal seit Jahren.
Cussane hatte zwei Möglichkeiten: er konnte versuchen, als Tramper weiterzukommen oder einen Wagen zu stehlen. Die zweite bot ihm mehr Bewegungsfreiheit, bessere Kontrolle, funktionierte aber nur, wenn das Fahrzeug erst nach einiger Zeit vermißt wurde. Auf der anderen Seite der Autobahn stand ein Motel. Was da parkte, mußte Leuten gehören, die dort die Nacht verbrachten. Das Verschwinden des Autos sollte erst in drei oder vier Stunden entdeckt werden, und bis dahin war er über alle Berge.
Er erklomm die lange Treppe zur Fußgängerbrücke,
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