Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
verliere.«
Rainer Gritz fuhr in die Stadt zurück. Was ist der Kern dieses Abends?, dachte er. Ich werde alleine sein mit diesem Fall. Und dann überlegte er, wie er morgen die Mail formulieren könnte, an seinen Kollegen in Penzance. Wie fragte man am besten auf Englisch, ob irgendetwas an dem Unfall mit dem Mähdrescher merkwürdig war? Ob der Kollege sicher sei, dass der Unfall ein Unfall war?
Donnerstag, 12. Oktober
(t 0 minus 50)
Amy Keller mochte es, wenn ihre Muskeln langsam warm wurden, das war ein leichter, angenehmer Schmerz. Sie hätte nie gedacht, dass ihr das einmal so wichtig sein würde: ihre Fitness, ihr muskulöser Körper, kein Gramm Fett, nirgendwo. Jeder Muskel wie modelliert. Morgens um halb sieben war Genf ziemlich still, und sie konnte ihre eigenen Geräusche hören, die Geräusche, die sie auf dem Fahrrad verursachte. Die Tretlager der Pedale, das Abrollen der Reifen auf dem Asphalt, die Luft, die sich an ihrer engen Windjacke rieb – und ihren Atem. Sie fuhr ein Univega Alpina HT Carbon-Bike mit verstärkter Gabel und einer speziellen Blitzgangschaltung, die gerade in der Stadt von Vorteil war.
Seit zwei Jahren arbeitete Amy Keller nun schon als Fahrradkurierin. Anfänglich war es nur ein Nebenjob gewesen, neben ihrem Studium der Kunstgeschichte. Aber nach und nach hatte sie immer mehr Gefallen am Radfahren gefunden und immer weniger an der stickigen Luft im Hörsaal. Seit vier Monaten war sie überhaupt nicht mehr an der Uni gewesen. Sie fuhr beinahe jeden Tag, und es gefiel ihr. Ihr ganzes Leben gefiel ihr. Amy Keller war Engländerin, stammte aus einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater hatte eine große Haustierhandlung in London und stand auf dem Standpunkt, alles, was sie tue, sei in Ordnung, Hauptsache, sie sei glücklich. Sie wohnte in einer lustigen WG, hatte einen netten, gutaussehenden Freund und noch einen zweiten, heimlichen, der weniger nett war, dafür aber eine Art pornographischen Sex ablieferte, für den sie immer schon ein Faible gehabt hatte.
An diesem Morgen war Amy Keller unterwegs zum linken Ufer des Genfer Sees in das Viertel Eaux-Vives. Rue Mantour, das war eine Adresse mit schönen alten Häusern. Sie hatte ein kleines flaches Paket dabei, eine edle orangefarbene Schachtel, um die mit einem braunen Seidenband eine schöne Schleife gebunden war. Kein Kuvert, keine Aufschrift. Amy Keller sollte die Schachtel persönlich bei Frau Professor Welterlin abgeben, und zwar vor sieben Uhr. Sie musste ein paarmal läuten, ehe der Türöffner summte. Nach einem Stockwerk Treppe stand sie vor einer verschlafenen Frau im Bademantel. Sie gab ihre Lieferung ab, holte sich eine Unterschrift, sagte: »Nein, nein, ist alles schon bezahlt«, nahm die Treppe in großen Sprüngen und saß wenige Augenblicke später wieder auf ihrem Rad.
Amy Keller wusste, was solch ein orangefarbener Karton bedeutete. Die Nobelfirma Hermès, Paris, verpackte ihre berühmten Halstücher, Pullover oder edle Ledernotizbücher in solchen Schachteln. Was sie zugestellt hatte, war ein Geschenk, keine Frage. Hatte die Frau mit den auffallenden dunkelblauen Augen heute Geburtstag? Das liebte Amy an ihrem Job, die kleinen Ausschnitte von Geschichten. Sie hatten keinen Anfang und auch keine Fortsetzung, niemals eine Fortsetzung. Wäre das nur im wirklichen Leben auch so, dachte sie. Und stellte sich vor, wie die Frau Professor aus der Rue Mantour das Geschenk öffnete und danach sofort zum Telefonhörer griff, um sich bei irgendjemandem zu bedanken. Mit dieser Vorstellung und Muskeln, die immer mehr auf Touren kamen, rollte Amy Keller in die erwachende Stadt zurück.
In gewisser Weise lag sie mit ihrem Gedanken richtig. Sophia Welterlin griff tatsächlich sofort zum Telefonhörer, nachdem sie das Paket geöffnet hatte. Sie rief in ihrem Büro auf dem CERN-Gelände an, um zu sagen, dass sie plötzlich krank geworden war und heute nicht zur Arbeit kommen konnte.
Donnerstag, 12. Oktober
(t 0 minus 50)
Das alte Haus über dem See eignete sich denkbar schlecht als Zentrale des Reglers, fand Gabriel Tretjak. Manchmal musste er schmunzeln. Post musste man unten im Dorf bei einer chemischen Reinigung abholen, deren Besitzerin als Nebenverdienst eine Art Postamt betrieb – mit durchaus eigentümlichen Öffnungszeiten. Die drahtlose Internetverbindung schwankte gefährlich mit dem Wetter, fiel schon mal für zwei Stunden ganz aus. Sogar das Telefon suchte sich gelegentlich Funklöcher, wo sonst keine waren.
Weitere Kostenlose Bücher